Disclaimer: Dieser Text handelt von Antisemitismus und Hassverbrechen. 

עֶזְרָא

Egal, ob das laute dröhnende Klopfen sein Herz oder doch die draußen marschierenden Männer waren, die gegen Türen und Fenster schlugen, es war klar, dass irgendetwas gerade gewaltig schief lief.

Esra lag zusammengekauert in der Ecke seines Bettes, seinen Teddybär in den zittrigen Armen und die Augen weit aufgerissen vor Angst. Er versuchte, die schlafende Gestalt seiner Mutter zu erkennen, doch die Rollläden und die Tür verweigerten ihm jedes Licht, sodass er in Dunkelheit und Ungewissheit getaucht dasaß.

„Mami?“, flüsterte er. Wo war seine Mutter? Er konnte sich noch genauestens daran erinnern, dass sie neben ihm gelegen hatte, als er die müden Augen geschlossen hatte und in einen unruhigen Traum verfallen war. Er hatte geträumt, dass er mitten auf einem Marktplatz stand und den Leuten dabei zusah, wie sie an ihm vorbei hasteten und ihre Einkäufe missmutig erledigten. Doch versuchte er, einen von ihnen anzusprechen, so liefen sie weiter, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Er suchte seinen Vater, an dessen Gesicht er sich kaum noch erinnern konnte, aber dessen Stimme noch immer in seinen Ohren hallte, als stünde er direkt hinter ihm. Und auch in seinem Traum hörte er weit, weit entfernt die tiefe und beruhigende Stimme der Person, die er am meisten vermisste. Aber kaum hatte sich Esra umgedreht, verschwand sein Vater, und die Stimmen über die Beschwerden und das Unglück der Umherlaufenden wurden lauter und lauter, sodass es schien, als umkreisten sie ihn und rempelten ihn im Gehen an, jedoch weiterhin ohne ihn anzusehen. Er rief um Hilfe und versuchte wegzulaufen, aber die Mienen der Menschen blieben kalt und leblos, wie sie es schon immer gewesen waren. Und so stand er letzten Endes verloren und alleine inmitten auf dem Markplatz voller Menschen. Aber es war nicht das erste Mal gewesen, dass Esra diesen Traum hatte. Schließlich hatten ihn dumpfe monoton aufeinanderfolgende Laute geweckt, die, wie sich herausstellte, Schritte waren. Schritte von sehr vielen Personen und dazwischen auch Befehle, die er nicht verstand.

„Mama!“, rief er nun lauter. Er traute sich nicht, aus dem Fenster zu blicken. Überhaupt hatte er schon seit mehreren Tagen keinen einzigen Sonnenstrahl mehr gesehen. Vielleicht, dachte Esra, hatte sich sogar die Sonne vor dieser schrecklichen Zeit versteckt. Lange überlegen konnte er jedoch nicht, da sich auf einmal die Tür einen Spalt breit öffnete und ein Lichtstrahl die Dunkelheit aus Esras Zimmer vertrieb.

„Esra?“, hörte er die Angst erfüllte Stimme seiner Mutter Zelma. „Komm, Liebling, wir müssen verschwinden. Schnell“.

„Wer ist das da draußen? Was machen die da?“, fragte er. „Keine Zeit“, drängte seine Mutter und fuchtelte wild mit den Armen, „erzähl ich dir später“. Eilig verließ er das Zimmer, ohne seinen Teddy wegzulegen und folgte seiner Mutter in die Küche. Behutsam öffnete sie die Rollläden und dann das Fenster, das in den Innenhof des Gebäudes zeigte. Esra spürte wie eine frische Brise seine Haare verwehte. Es musste Winter sein. Dann sah er nach draußen und spürte augenblicklich ein Ziehen im Bauch. „Es tut mir leid“, flüsterte seine Mutter, „aber wir müssen wirklich weg. Ich habe hier deine Jacke, bitte zieh sie an, es ist kalt“. Dann kniete sie sich hin, hielt ihn bei den Schultern und blickte ihn mit ihren tiefbraunen Augen an. „Ich möchte, dass du ab jetzt alles tust, was ich dir befehle, in Ordnung? Weißt du noch, als ich dir erzählt habe, was dein Name bedeutet, weißt du noch?“. Er nickte. Natürlich wusste er das noch, sie erzählte es ihm schließlich jeden zweiten Tag. Esra ist hebräisch und heißt ´Gott ist Hilfe´. „Vertrau Gott. Verstehst du, Esra, diese Männer dort sind gefährlich“. Er blickte sie ernst an und sah erstaunt eine runde Träne in ihren Augen. Sie richtete sich auf und wischte sie sofort weg. „Haben die Papa weggenommen?“.

Sie nickte: „Und jetzt los, ich geh voran“ und mit diesen Worten kletterte sie vorsichtig mit dem einen und dann auch mit dem anderen Fuß aus dem Fenster. Esra lehnte sich nach draußen. Eine wackelige Leiter stand an der Wand, ansonsten meterweite Tiefe nach unten. Wenigstens war von den Männern keine Spur zu sehen, aber die Rufe und Befehle konnte Esra immer noch vernehmen. Entfernten sie sich?

Tief atmend machte er den ersten Schritt ins Freie, spürte den eisigen Wind an seinen Fingerspitzen, die krampfhaft den Fenstersims festhielten. Zweite Sprosse. Noch ein tiefer Atemzug. Dritte Sprosse. Er versuchte, sich keine großen Gedanken zu machen und kletterte langsam aber bedacht hinunter.

„Du schaffst das, Esra! Die Hälfte hast du hinter dir“, hörte er leise seine Mutter durch die nun immer lauter werdenden Rufe – oder waren es Schreie? Schreie aus Angst und Ungewissheit oder vielleicht auch Schmerz? Esra schwor sich, nicht nach unten zu blicken und dass er sich, selbst wenn er es musste, nicht übergeben konnte, weil er schon seit Stunden nichts gegessen hatte, war nur ein kleiner Trost.

Als er beinahe unten angekommen war, nur noch einige Sprossen der Leiter runter klettern musste, tönte ein Schrei aus der Ferne, dass Esra sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, wenn er nicht auf dieser Leiter stünde. „Komm schnell! Hab keine Angst, ich bleibe bei dir“, rief seine Mutter und endlich spürte er den harten Steinboden des Innenhofes unter seinen Füßen und die warmen Hände seiner Mutter auf seinen Schultern. „Ich weiß, wie viel Mut dich das gekostet hat, Esra, du bist sehr tapfer. Und jetzt heißt es fliehen“. Sie liefen los, zur gegenüberliegenden Seite des Hofes, wo zwischen weiteren Häusern ein kleines Tor war. Von dort aus konnte man zu einer Nebenstraße gelangen. Sie lag einsam da und ließ eigentlich kaum vermuten, dass irgendwelche schlimmen Ereignisse die Stadt eines Tages heimsuchen würden.

Ein weiteres Geräusch, das Esra bis in die Knochen durchrüttelte, war ein Knall, es klang wie ein Schuss, schon deutlich näher als die Schreie.

„IHR DA! STEHEN BLEIBEN! SOFORT!“

Esra drehte sich ruckartig um. Der Umriss eines Mannes stand an dem Fenster ihrer Küche, den er nur grob erahnen konnte.

„Renn, Esra!“, schrie seine Mutter und zerrte ihn von der Nebenstraße weg durch den angrenzenden Park. Weitere Schüsse folgten.

„Ich hab hier welche, ergreift sie!“, brüllte die Stimme des Mannes.

Kleine Zweige streiften schmerzhaft sein Gesicht und er konnte kaum sehen, worauf er trat, aber das war jetzt erst mal auch nicht wichtig. Was auch immer los war, so ängstlich hatte er seine Mutter noch nie erlebt – und sie hatten schon einiges durchgemacht. Aber noch immer spürte er ihre Hand, ihre Wärme und hörte ihren keuchenden Atem. Er stieß sich seinen Kopf an einem tief hängenden Ast, den er nicht gesehen hatte und stolperte über Wurzeln, doch jedes Mal half ihm seine Mutter auf und die Angst verwandelte ihn in einen Marathonläufer. Er wagte es nicht, sich nach hinten zu drehen oder zu lauschen, ob die Männer noch da waren, allerdings gäben sie sicher nicht ganz so einfach auf, was auch immer sie von ihnen verlangten. Einige Stürze und atemlose Schritte später kamen sie zu einer weiteren Seitenstraße, auf der Laternen an den Seiten des Weges leuchteten. Rechts und links waren hohe Häuser, die alle nah beieinander standen und es wirkte beinahe so, als sei dies eine Nacht wie jede andere. Denn Esra erkannte den Weg sofort wieder. Er führte zur Synagoge, die er und seine Mutter einst so oft besucht hatten, aber die er in letzter Zeit kaum noch zu Gesicht bekommen hatte. Sie thronte am Ende des Weges auf dem Platz  – und brannte lichterloh. Ihre runden Türme spitzten sich hoch ins Himmelszelt wie die Baumkronen im Wald und der tiefschwarze Rauch war nicht von der Dunkelheit zu unterscheiden.

„Nein…“, stammelte seine Mutter. Fassungslos blickte sie zur Synagoge. Die einst  so farbfrohen Fenster waren eingeschlagen worden, und obwohl sie mit feuerrotem Licht umgeben waren, erschienen sie Esra nicht ansatzweise mehr so bunt wie zuvor. Die große Eichenholztür stand in hohen züngelnden Flammen. Die Synagoge stand auf dem Marktplatz aus Esras Träumen. Doch noch bevor sie begriffen hatten, was sich vor ihnen abspielte, sprangen mit einem Rascheln mehrere bewaffnete Männer aus dem Gestrüpp hinter ihnen. Sie waren ihnen also gefolgt.

„Das sind sie! Keine Bewegung!“, brüllte einer von ihnen. Esra konnte spüren, wie sein Magen sich schmerzhaft zusammenzog und er vor Angst kaum wagte, zu atmen. Sie hoben die Arme und er sah, wie seine Mutter zitterte. Er wollte nicht mit ansehen, wie die Furcht seine Mutter innerlich zerwühlte, denn er wusste, dass sie extreme Angst vor Feuer hatte; und doch blickte er sie an und sie erwiderte den Blick, versuchte genauso mutig wie immer auszusehen. „Bring dich in Sicherheit“, flüsterte sie.

Und im Nachhinein hätte Esra kämpfen wollen, er wollte seine Mutter beschützen und sich alleine den Männern stellen, so wie es die Helden aus seinen Büchern immer taten. Er wollte ihre Hand nehmen und sie aus der Gefahr zerren, einen spektakulären Abgang machen und mit seiner Mutter in ein fernes Land ziehen, in dem sie glücklich und ohne Angst leben könnten – Doch stattdessen rannte er. Er wusste nicht, wohin. Er raste einfach in die nächst beste Gasse, die er vorher nie bemerkt hatte und wahrscheinlich nur, weil die Männer überrascht waren, konnte er so schnell fliehen. Er hatte keine Ahnung, was mit seiner Mutter geschah, ob sie ihm folgte oder doch die Männer ihn gefangen nehmen wollten. Er hörte einzig und allein diese Schüsse, die schon die ganze Nacht durch die Luft hallten. Denn wenn es diesen Gott wirklich gab, von dem seine Mutter so oft redete, dann betete er, dass er sich diese Schüsse bloß vor Furcht einbildete. Erneut fand er sich im Gestrüpp, rannte durch Dornen und gegen Äste, doch es störte ihn nicht. Er hatte seiner Mutter versprochen, auf sie zu hören und jetzt hatte sie ihm befohlen, sich zu retten und egal, wie viel Schmerz es ihm bereitete, er konnte sein Versprechen keinesfalls brechen.

Als er schon so lange gerannt war, dass ihm die Lungen brannten, lehnte er sich gegen einen dicken Baumstamm, woraufhin seine Beine vor Erschöpfung sofort einknickten. Esra blickte sich um, die Schreie und Schüsse waren verstummt. Er musste die Stadt verlassen haben und im Wald sein, wo er und sein Vater immer zelten gegangen waren. Es kam ihm vor, als sei dies schon Jahre her. Er lag gekrümmt auf dem Boden, versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu kriegen und vor Anstrengung nicht zu kollabieren, während er in den Sternen übersäten Himmel blickte. Sie leuchteten so fern und unberührt von alledem, was hier geschah, und Esra fiel auf, dass er seit Wochen wieder an der frischen Luft war. Er roch den Duft der Bäume nach Harz und vergrub seine Hand in der weichen Erde, die sich mit einem sanften Kribbeln auf seiner Haut verteilte. Er konnte nicht begreifen, was diese Leute von ihnen wollten. Schon seinen Vater hatten sie mitgenommen. Warum waren sie anders? Sein Vater hatte immer gute Arbeit geleistet, seine Mutter war freundlich zu allen gewesen und er – er hatte nie Streit mit anderen Kindern aus der Schule angefangen. Beim besten Willen konnte er sich nicht daran erinnern, irgendeine Regel gebrochen zu haben.

Er drückte seinen Teddybären fester an sich, der voller Zweige und Erde war, genau wie er.

 

Esra stand wieder auf dem Marktplatz, wieder alleine und wieder liefen die ganzen Leute, ja lief das ganze Leben an ihm vorbei. Und er hörte sich sprechen, aber sie konnten es nicht verstehen, er sah seine Hände, und er wusste, dass er existierte, dass er genauso lebte wie alle anderen. Aber sie wollten ihn nicht annehmen, weigerten sich, sich mit ihm zu befassen, ihm zu helfen. Dabei war doch klar, dass er nichts dringender brauchte als einen Freund. Außer dem Wirrwarr aus fremden unfreundlichen Stimmen erkannte er erneut die seines Vaters, der eine Hand auf seine Schulter gelegt hatte und seinen Namen sagte, bloß seinen Namen. Er spürte eine andere kleinere Hand, die seiner Mutter. „Gott ist Hilfe“, sagte sie leise in sein Ohr flüsternd. Aber dieses Mal drehte sich Esra nicht nach seinen Eltern um, weil er wusste, im Traum würden sie sofort wieder verschwinden. Doch in der Realität waren ihre Stimmen, auch wenn seine Eltern ihn verlassen hatten, nie wirklich fort.

Und so standen sie dort zu dritt, inmitten auf dem Marktplatz gegenüber der Synagoge und umgeben von Unmengen von Menschen, die alle gleich aussahen und doch verschieden waren.

Und dieses Mal, dieses Mal war Esra nicht allein.