Am 5. Mai 1955 erblickte ein kleines Mädchen die weite Welt. Nun würde man meinen, dass ein Neugeborenes doch zuerst einmal in voller Lautstärke beginne sich die Seele aus dem Leibe zu schreien, oder? Aber nicht dieses kleine Mädchen. Sie lachte. Sie lachte so lange und laut, bis ihre Stimme aufgab. Sie konnte nicht anders, denn die Menschen um sie herum strahlten sie an, empfanden Freude ein gesundes Kind ansehen zu können. Bereits zu diesem Zeitpunkt wusste die Mutter des jungen Mädchens: Ihr Kind war etwas Besonderes.

Sie sitzt schlafend in der Straßenbahn, auf dem Weg zu ihrer Oma. Die Eingewöhnung auf dem Gymnasium hatte die letzten Tage all ihre Energie geraubt, sodass sie sich kaum ausruhen konnte. Erschöpft schloss sie ihre Augen. Endlich Ruhe. Keine Stimmen, die nach ihrem Wohlbefinden fragten. So schlief sie friedlich ein. Doch jener Frieden sollte nicht andauern, denn ein stechender Schmerz reißt das Mädchen aus ihren Träumen. Sie atmet schwer, hält die Hand an ihr Herz und versucht sich zu beruhigen. Es fühlt sich an, als würden tausend kleine Dornen in ihr Herz stechen. Dieses Gefühl begleitet sie derzeit tagtäglich und sie hasst es. Sie hasst es aus dem Grund so sehr, da es sie niemals in Ruhe ließ. Nicht einmal in ihren Träumen. Immer wieder überrollt sie der Schmerz und sie wacht erschrocken auf. Aufgewühlt versucht sich das Mädchen abzulenken und beobachtet die Menschen in der Bahn. Ihre Augen bleiben an einer Frau hängen. Sie wirkt in sich gekehrt, wie ein Schatten ihrer selbst. Ein Schauer läuft dem Mädchen hinunter. Sie erkennt sich selbst wieder, dieses Elend, diese tiefe Traurigkeit. Allein der Anblick der Frau schmerzt sie. Eine Gruppe Menschen unterbricht ihre Sicht auf diese. Die Straßenbahn hatte gehalten, das ist ihre Haltestelle. Das Mädchen muss aussteigen, aber kann ihren Blick nicht von ihr abwenden. Sie ahnt, was die Frau gerade empfindet, nein, sie ist sich sicher. Dieser leere Blick… wie gerne würde sie zu ihr gehen. Schließlich ist sie in dieser Bahn wohl die einzige Person, die die Gefühle der Frau wahrlich verstehen kann. Dadurch weiß sie aber auch, dass eine Floskel wie „Ich verstehe dich“ nur ein spärlicher Versuch zur Aufmunterung darstellt und in den seltensten Fällen wirklich tröstet. Also wirft das Mädchen der Frau noch einen letzten Blick zu und verlässt dann die Bahn. Wie solle die Frau ihr glauben können, dass sie sie tatsächlich verstehen kann, wenn diese sich so einsam und allein, gefangen in ihrer eigenen Trauer zu fühlen schien.

„Hallo Oma“, ruft das Mädchen, während sie die Tür hinter sich schließt. „Oma?“ Keine Antwort. Sie läuft durch den Flur, zieht ihre Schuhe aus und spürt plötzlich einen Windstoß. Sie schaut sich um und sieht die offene Terrassentür. „Arbeitest du wieder im Garten, Oma? Der Arzt hat doch gesagt, du sollst dich nicht so körperlich überanstrengen“, sagt das Mädchen, während es die Terrasse betritt. Und tatsächlich, ihre Oma kniet mitten in einem riesigen Beet voller Blumen. „Ach hallo Luna, dich habe ich ja gar nicht hineinkommen gehört“, erwidert sie, blickt auf und lächelt ihre Enkelin warmherzig an. „Hast du mich wenigstens schimpfen gehört?“ Lachend richtet sich die alte Frau auf und antwortet: „Ich mag schon in die Jahre gekommen sein, aber ein paar Blumen werde ich schon noch einpflanzen können, mein Schatz. Setz dich, ich habe Tee gekocht.“ Seufzend setzt sich Luna an den Terrassentisch. Kurze Zeit später kommt ihre Oma mit dem Tee und einem Kirschkuchen zurück. „Nimm dir Kuchen, mein Kind“, sagt sie und schenkt ein. Es ist Omas Lavendeltee, ein ganz besonderer. Sie trinkt ihn immer, nachdem sie einen Alptraum gehabt hat.  „Woher wusstest du…“, beginnt Luna, doch ihre Oma kommt ihr zuvor: „Ich habe es in deinen Augen gesehen.“ Luna senkt ihren Kopf. „Mein Kind, ich kenne ich dich gut genug. Du hast wieder von deiner Mama geträumt, stimmt‘s?“ „Oma, es tut so weh“, schluchzt Luna und eine Träne kullert ihre Wange hinunter. „Ich weiß, mein Kind. Ich kenne deinen Schmerz, denn ich empfinde ihn auch. Als deine Mama gestorben ist, fühlte ich mich eine Zeit lang leer, schließlich war sie mein einziges Kind. Aber man darf am Schmerz nicht festhalten. Sonst frisst er einen von innen auf. Wir Menschen empfinden nicht nur schöne Emotionen wie Freude, Hoffnung und Liebe. Das zu akzeptieren ist auch mir oft schwergefallen – das tut es noch immer, obwohl ich bereits mit viel Trauer konfrontiert wurde.“ Sie trinkt einen Schluck und streichelt sanft den Kopf des Mädchens. Dann fährt sie fort: „Weißt du, ich habe damals immer versucht, deine Mama vor den Schmerzen zu schützen. Ich wollte sie fernhalten von der Dunkelheit. Doch ich musste anerkennen, dass diese Dunkelheit immer ein Teil unserer Welt sein wird. Ohne sie gäbe es schließlich auch kein Licht. Emotionen existieren gleichwertig nebeneinander. Sei es die Trauer über einen verstorbenen Menschen oder die Freude über einen Neugeborenen. Diese Gefühle gehören zusammen, sie können ohne einander nicht bestehen.“ „Aber ich habe Angst, sie zu vergessen“, schluchzt Luna. „Ich habe Angst, Mama zu vergessen, wenn ich den Schmerz loslasse.“ „Aber Kind, du wirst sie doch nicht vergessen. Sie ist immer bei dir und passt auf dich auf. Aber würde sie wollen, dass du tagtäglich trauerst und nicht mehr schlafen kannst? Du sollst glücklich sein, nicht jeden Tag in Schmerzen leben. Erlaube dir, es zu akzeptieren. Akzeptanz bedeutet nicht vergessen, es bedeutet heilen.“

Eine letzte Träne tropft auf den Boden, dann wischt sich Luna das Gesicht ab und schaut ihre Oma mit großen Augen an. „Weißt du, mein Kind, Menschen und ihre Gefühle – das ist so eine Sache. Sie prägen jeden einzelnen unserer Tage, entscheiden, wie wir uns fühlen und wie wir handeln. Sie machen uns menschlich. Oft warnen sie uns auch vor Gefahren, so sagt man es dem Bauchgefühl nach. Oder aber sie lassen uns Liebe spüren und Liebe geben. Jedoch scheinen sie uns auch oft zu beherrschen, uns festzuketten, sodass wir ihnen nicht entkommen können. Sie vereinnahmen uns, wollen uns die Kontrolle nehmen. So viele Menschen versuchen, ihren Schmerz beiseite zu schieben, wollen ihn auf die leichte Schulter nehmen. Nicht der Schmerz an sich schmerzt sie, es ist die Angst vor Schmerz, der die Menschen lähmt. Sie wollen ihm nicht gegenüberstehen, ungeschützt, nackt, gänzlich verwundbar. Zu sehr fürchten sie den Abgrund, der sich vor ihnen aufzutun scheint.“ Luna blickt gedankenverloren in den Garten. Sie denkt über die Worte ihrer Oma nach und sagt nach einer Weile: „Heute in der Bahn habe ich eine Frau gesehen. Ich glaube, sie ist in den Abgrund gefallen. Ihr Blick war so leer und gleichzeitig so voller Hoffnungslosigkeit. Es hat wehgetan, sie anzusehen.“ „Das glaube ich dir. Was den Schmerz so unerträglich zu scheinen macht, ist sein unbekanntes Ende. Du weißt nicht, wann er aufhören oder abklingen wird, nur dass er es irgendwann tut. Aber dessen kann man sich allenfalls sicher sein, denn Emotionen sind terminiert. Sie können auch ihre Intensität und Form ändern und jeder Mensch empfindet sie anders, geht anders mit ihnen um. Daher kann man einen Menschen zwar verstehen – seine Handlungen, seine Gedanken, seine Gefühle – aber wirklich nachempfinden wird man letztere nie können.“

Schweigend schaut Luna in die Ferne. Plötzlich erinnert sie sich an diesen einen Abend. Damals saß sie mit ihrer Mutter auf dem Sofa und weinte in ein Kissen. Mit zitternder Stimme fragte sie: „Ich verstehe es nicht, ich verstehe es einfach nicht! Warum will sie nicht mehr mit mir befreundet sein?“ Ihre beste Freundin hatte ihr die kalte Schulter zugewandt, aus dem Nichts – so fühlte es sich für Luna an. Sie verstand es nicht, sie fühlte nur den Schmerz. Ihre Mutter nahm sie daraufhin in den Arm und streichelte ihre weichen Haare. „Mein Engel, als ich so jung war wie du, hatte Oma mich auch immer so im Arm wie ich dich gerade. Auch ich habe vieles damals nicht verstanden, aber mit der Zeit machst du oft ähnliche Erfahrungen, sodass du es irgendwann verstehst.“ „Oma, werde ich sie auch einmal verstehen können? Die Menschen meine ich. Du weißt so viel über sie, werde ich das auch tun, wenn ich älter bin?“ Ihre Oma lächelt und antwortet nach einem Augenblick: „Aber das tust du doch schon. Du hast die Dame in der Bahn verstanden. Du hast ihren Schmerz gesehen, weil du ihn selbst kanntest.“ Luna nickt langsam mit dem Kopf. Sie trinkt noch den letzten Schluck Tee, bevor ihre Oma aufsteht und sagt: „So, mein Kind, jetzt ist es aber schon spät geworden. Geh hoch, deine Hausaufgaben erledigen, ich arbeite noch etwas im Garten.“ „Aber nicht überanstrengen, Oma“, warnt Luna sie mit bestimmtem Ton, „Du weißt, was dein Arzt gesagt hat!“ „Du bist zu erwachsen für dein Alter, Kleine“, lacht ihre Oma laut und ruft: „Auf, hoch mit dir!“ Nach dem Abendessen macht sich Luna fertig und legt sich in ihr Bett. Das Haus ihrer Oma fühlt sich bereits wie zu Hause an, als hätte sie immer hier gelebt. Leise klopft diese an ihre Zimmertür und nach einem lauten „Herein“ von Luna, betritt ihre Oma das Zimmer und setzt sich auf die Bettkante. „Heute war ein langer Tag, geh schlafen, mein Kind.“ „Omaaaaa?“, fragt Luna und schaut sie mit großen, kugelrunden Welpenaugen an. „Kannst du mir nochmal die Geschichte von diesem Mädchen erzählen? Das Mädchen, das Gefühle lesen konnte? Das hast du schon so lange nicht mehr gemacht, aber heute musste ich daran irgendwie denken.“ „Aber das ist eine lange Geschichte, mein Kind.“ „Zumindest ein bisschen. Bitte bitte bitte“, fleht Luna sie an. „Wie könnte ich dir nur einen Wunsch abschlagen? Aber wirklich nur kurz“, schmunzelt ihre Oma.

„Am 5. Mai 1955 erblickte ein kleines Mädchen die weite Welt…“

 

Wie sollen sich die Menschen von dir verstanden fühlen, wenn sie sich selbst nicht einmal verstehen?


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