„Du bist perfekt so wie du bist“ – das wird uns gesagt. Auf jeder Geburtstagskarte steht geschrieben, wir sollen doch so bleiben wie wir sind. Aber will uns die Gesellschaft so? Haben wir wirklich die Freiheit, zu sein, wer wir sind oder wird uns das bloß zu verkaufen versucht, wie all die Werbeprodukte, hinter denen nur leere Worte stecken?

Dies ist ein Porträt über den perfekten Menschen in unserer Gesellschaft. Wie sieht er aus? Welche Charaktereigenschaften besitzt er? Nach welchen Maßstäben handelt er? Was ist ihm wichtig, was unwichtig?

 

Allgemein

Der perfekte Mensch ist wohl ein Mann, denn Frauen wachsen nun langsam mit ihrem Feminismus über sich hinaus und die queere Community will doch nur die deutsche Sprache verunstalten. Es ist also ein Mann, aber er muss jung sein, denn alt würde er Rente beanspruchen müssen. Er sollte Sport machen und sich gut ernähren, damit er gesund bleibt und der Krankenkasse nicht auf der Tasche liegt. Er ist ausgeglichen, äußerlich und innerlich und ist in der Lage, seine Arbeit mit seinem Privatleben ohne Probleme zu vereinbaren.

Seine Kindheit und Jugend

Der perfekte Mensch ist gut in der Schule und arbeitet fleißig. Dieser strebt eine erfolgreiche Zukunft an und ist bereit sich dafür einzusetzen. Er ist diszipliniert und lernt viel, macht seine Hausaufgaben und beteiligt sich am Unterricht. Er fällt nicht negativ auf, aber auch nicht zu positiv, sonst will er sich doch nur bei den Lehrern einschleimen! Egal wie viele Aufgaben, er macht sie alle gewissenhaft und findet für alles Zeit, sodass er nichts vernachlässigt. Damit er aber nicht als ein Nerd gesehen wird, pflegt er gleichzeitig auch seine sozialen Kontakte und schläft mindestens 8 Stunden, denn gerade für die Entwicklung junger Menschen ist das doch so wichtig!

Nach dem Abitur zieht der perfekte Mensch in die Welt hinaus, macht neue Erfahrungen und erarbeitet sich verschiedene Qualifikationen, die er als Stichpunkte in seinen Lebenslauf schreiben kann. Aber Vorsicht! „Bleibe der Arbeitswelt bloß nicht zu lange fern, sonst verlierst du den Anschluss! Verbinde das Reisen doch mit Work and Travel, dann kannst du bereits Geld verdienen.“

Seine Arbeit

Für den perfekten Menschen ist es selbstverständlich, viel Energie in seine Arbeit zu stecken und ihr einen großen Stellenwert in seinem Leben zuzusprechen. Dadurch verdient er genug Geld, um als wohlhabend zu gelten, nicht aber zu reich, sonst meint er noch, er hätte ein Wörtchen mitzureden! Er ist stets bereit, Überstunden zu machen und stellt so sein eigenes Interesse hinten an. Auch wenn er Urlaub macht, bleibt aber weiterhin erreichbar.

Sein Aussehen

Der perfekte Mensch ist von durchschnittlicher Schönheit. Er ist schön genug, um von der Mehrheit der Menschen als „schön“ betitelt zu werden, aber ja nicht zu schön, sonst weckt er Neid in den anderen. Außerdem ist er schlank, aber bloß nicht mager: „Das sieht doch ungesund aus!“ Aber zu viel Bauch soll auch nicht sein, ein paar Muskeln wären doch hübsch.

Der perfekte Mensch ist weiß, denn wenn ein Mensch eine andere Hautfarbe hat: „Was machst du in Deutschland?“ „Warum bist du nicht in deiner Heimat?“ Er spricht außerdem einwandfreies Hochdeutsch, schließlich ist er doch Bürger dieses Landes!

Sein Charakter

Er ist in völligem Einklang mit sich selbst. Stress treibt ihn an, er kann mit ihm umgehen. Obwohl er viel arbeitet, brennt er nicht aus, er hat seine Methoden. Er kennt zudem seinen Wert und kann sich dementsprechend präsentieren ohne arrogant herüberzukommen. Ihm sind Grenzen bewusst – er ist kein Träumer, sondern Realist. Nur Taten haben Aussagekraft.

Das Wort „egoistisch“ kennt der perfekte Mensch nicht. Natürlich kümmert er sich um sein Wohl, doch ist er bereit, seine Zeit für die Arbeit zu opfern. Er kann „nein“ sagen und wird dadurch mit Respekt behandelt, aber bloß nicht zu oft, sonst ist er Egoist. „Sei doch unabhängig und triff deine eigenen Entscheidungen.“ Aber hey! „Du willst das machen, weil es dir Spaß bereitet? Denk doch rational nach, das wird dir nie Geld einbringen.“

Der perfekte Mensch handelt nie aus Impuls. Er wählt seine Worte überlegt, tritt niemandem auf den Schlips: Der Klügere gibt doch schließlich nach.

Der perfekte Mensch hat keine Probleme und wenn er welche hat, dann weiß er mit ihnen umzugehen. Egal was es ist, er braucht keine Hilfe, keine Therapie, denn er ist selbst in der Lage sich zu retten. Genug Plätze gibt es sowieso nicht.

Er sucht immer nach Selbstoptimierung, will das Beste aus sich herausholen und scheint dies mit Leichtigkeit zu schaffen. Er kauft sich Bücher und bucht Kurse um etwas über Zeitmanagement zu lernen und kann dies genau so umsetzen. Von den sozialen Medien wird er inspiriert, die versteckten Lügen hinter den Bildern berühren ihn nicht. Er fällt nicht in die Fallen, die ihn Stunde für Stunde durch TikTok scrollen lassen, denn er hat Disziplin und hat sich im Griff.

Er passt sich überall an. Unter Menschen macht er sich beliebt, doch sticht nicht zu sehr heraus, um sich nicht in den Mittelpunkt zu drängen. Er ist aber auch nicht zu still, sonst meiden ihn die anderen und ihm wird gesagt, er solle doch nicht so schüchtern sein. Der perfekte Mensch ist extrovertiert, weiß aber, wann er sich zurückziehen sollte, sonst wird er als Mensch ohne Persönlichkeit dargestellt. Er kommt gut alleine zurecht, fühlt sich aber auch in der Menge wohl, denn er will schließlich kein Stubenhocker sein.

Seine Familie

Der perfekte Mensch hat einen Partner, den er über alles liebt, denn Scheidungen sind anstrengend und denkt doch mal an die Kinder! Er hat 2,1 Nachkommen, damit die Geburtenrate stabil bleibt. Nach der Geburt geht er in Elternzeit, aber ja nicht zu lange! „Du willst doch deinen Job behalten.“ Es gibt keine Kitaplätze? Kein Problem für den perfekten Menschen, schließlich hat er entweder das Geld, für eine Nanny zu sorgen oder die Zeit, auf seine Kinder aufzupassen. Keine gute Beziehung mit den Eltern? „Du bist doch ihr Kind, kümmere dich um sie, sonst machst du dir noch Vorwürfe!“

Leben in der Gesellschaft

In der Gesellschaft vertritt der perfekte Mensch die Meinung der Mehrheit. Dadurch eckt dieser so wenig wie möglich irgendwo an und produziert keine unnötigen Auseinandersetzungen.

Der perfekte Mensch interessiert sich für die Politik, doch kommt nicht auf die Idee so viel an ihr zu zweifeln und er akzeptiert, dass „die da oben“ sicher mehr Erfahrungen haben. Selbst, wenn er mit etwas nicht einverstanden ist, so reagiert er rational und niemals radikal, denn das stellt doch eine viel zu explosive Stimmung her! Der perfekte Mensch ist nicht dumm, er versteht das System. Er bleibt nur einfach still.

Er achtet auf die Umwelt und macht Abstriche, wenn es um Urlaub geht. Aber vegan? „Was kannst du denn überhaupt essen?“ Der perfekte Mensch ist nicht so anstrengend, wenn es ums Essen geht, das stört seine Gastgeber nur. Er hat auch keine Lebensmittelunverträglichkeit, sonst ist er im Restaurant immer derjenige mit einer Extrawurst.

 

Nun frage ich mich: Wo finde ich diesen Menschen? Gibt es ihn da draußen? Und wenn ja, ist er glücklich? Oder wart er bloß den Schein, damit ihm nicht anzusehen ist, wie der Rahmen – in den er gepresst wird – in sein Fleisch schneidet? Wenn der „perfekte“ Mensch so wenig Mensch ist, kann aber mit Stolz sagen: Ich bin es nicht.

 

Bildquelle: https://unsplash.com/de/fotos/graustufenfoto-der-frauenstatue-REsbb10mpLo  Eingesehen am 4. Januar 2024