Wie die Debatte zur Zukunft der Sozialversicherung an Fahrt aufnimmt
Der alte Spruch „Wenn du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis„ könnte die aktuelle Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD im Themenfeld der Sozialversicherung angetrieben haben: Der Koalitionsvertrag sieht sowohl für die Stabilisierung der Renten- als auch der Krankenversicherungsbeiträge eine eigene Kommission mit Ergebnissen zur Hälfte der Legislatur vor. Zudem soll eine weitere Kommission zur Sozialstaatsreform bereits Ende 2025 Vorschläge präsentieren.
Also Konfliktpotenzial vorerst aufgeschoben? Schon drei Tage nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags schienen erste Kompromisse wieder strittig: Die neue Ministerin für Arbeit und Soziales, Bärbel Bas, schlug in einem Interview mit den Zeitungen der Funke Mediengruppe vor, auch Beamte, Abgeordnete und Selbstständige in die Rentenversicherung einzubeziehen.
Sozialversicherungsbeiträge werden momentan nur auf das Gehalt von Arbeitnehmern bis zur Beitragsbemessungsgrenze von aktuell ca. 5500 Euro für die Kranken- und 8000 Euro für die Rentenversicherung erhoben. Sie werden jeweils zur Hälfte von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite getragen und sind durch den demografischen Wandel auf über 40% des Einkommens angestiegen, obwohl die Sozialsysteme auch aus dem Bundeshaushalt bezuschusst werden.
Vor diesem Hintergrund schlug SPD-Gesundheitspolitiker Christos Pantazis vor, die Beitragsbemessungsgrenze für die Krankenversicherung ebenfalls auf etwa 8000€ anzuheben und so auch Besserverdienende stärker zur Finanzierung heranzuziehen. Auch SPD-Generalsekretär Klüssendorf forderte in einem Interview eine Erhöhung.
Die Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands VdK, Verena Bentele, unterstützt eine höhere Beitragsbemessungsgrenze, wünscht sich aber weitergehende Schritte: „Noch gerechter wäre aus VdK-Sicht, wenn in der Kranken- und Pflegeversicherung auch andere Einkommensarten sozialversicherungspflichtig würden.“ So würde die Finanzierung sicherer und gerechter aufgestellt, führt Bentele aus.
Auch Pantazis bezeichnet auf Anfrage eine Bürgerversicherung für alle Einkommensformen und Berufsgruppen als sein politisches Ziel, für das momentan aber keine politische Mehrheit bestehe: „Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt realistische, gerechte und wirtschaftlich tragfähige Reformschritte einleiten, die das Vertrauen in unsere sozialen Sicherungssysteme erhalten und stärken.“ Die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze sei dabei eine Maßnahme, die die finanzielle Situation der Krankenversicherung stabilisiere.
Der Direktor des Verbands der Privaten Krankenversicherung, Dr. Florian Reuther, bezeichnet eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze hingegen als „Sondersteuer auf Arbeitsplätze“. Sein Verband spricht durch eine Beteiligung an Seminaren der young leaders GmbH wie dem 199. junge presse kongress in Potsdam gerade jüngere Menschen an: „So informieren wir die Teilnehmenden über die Auswirkungen des demografischen Wandels auf das deutsche Gesundheitssystem und zeigen Lösungen für eine generationengerechte und stabile Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung auf.“ Denn gerade die jüngere Generation werde durch die steigenden Sozialversicherungsbeiträge im aktuellen Finanzierungssystem überfordert.
Auch innerhalb von CDU und CSU bestehen verschiedene Ideen für eine breitere Finanzierung der Sozialversicherungssysteme. Es reiche dabei nicht, „an ein paar Stellschräubchen zu drehen“, so der CDU-Abgeordnete Kai Whittaker: „Als Partei der Sozialen Marktwirtschaft war es immer unsere Stärke, soziale Gerechtigkeit mit wirtschaftlicher Vernunft zu verbinden.“ Die Reaktionen auf die Ideen des Koalitionspartners fallen innerhalb der Union jedoch verhalten aus. Kanzleramtschef Thorsten Frei widersprach in der ARD-Sendung „Caren Miosga“ schnell dem Vorschlag der Arbeitsministerin Bärbel Bas: „Ich finde dazu auch keine Belegstelle im Koalitionsvertrag“.
So mancher könnte Sorge vor großem Streit der Koalitionspartner haben. Doch insgesamt fällt der Widerspruch gegen eine breitere Finanzierung der Sozialversicherungen innerhalb der Union vergleichsweise gemäßigt aus. Auch Friedrich Merz zeigte sich wenige Tage nach seinem Amtseintritt im Interview mit Maybrit Illner vom Vorschlag seiner Arbeitsministerin zwar nicht überzeugt, schränkte jedoch ein: „Dieser Vorschlag kann vielleicht ein Element sein, wie man das in Zukunft macht.„
Diese offene Haltung mag verschiedene Gründe haben. Einerseits wirkt die Bundesregierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz zu Beginn ihrer Amtszeit besonders bemüht, Konflikte möglichst intern zu klären und nicht den Eindruck großen Streits zu erwecken. Womöglich besteht aber auch eine innerhalb der Union keine einheitliche Position zur zukünftigen Finanzierung der Sozialversicherung.
Die Bundestagsabgeordneten Dr. Markus Reichel und Kai Whittaker veröffentlichten bereits 2023 ein Konzept, in dem sie unter anderem vorschlugen, Sozialversicherungsbeiträge auf alle Einkommensformen zu erheben, also auch auf Einkünfte aus Selbstständigkeit oder Kapitalvermögen. Dadurch könne der Beitragssatz für alle Versicherten und der Zuschuss aus dem Bundeshaushalt gesenkt werden, rechnen die beiden Abgeordneten auf einer eigenen Homepage vor und regen zugleich weitere Reformen wie die Abschaffung der Erbschaftssteuer oder die Senkung der Unternehmenssteuern an.
Ein solches Gesamtkonzept würde zwar sozialdemokratischen Widerstand auslösen und entspricht auch nicht den diskutierten SPD-Vorschlägen. SPD-Politiker Pantazis begrüßt jedoch ausdrücklich die neue Dynamik in der Debatte zur Zukunft der Sozialversicherungen durch Vorschläge aus der Union: „Dass auch aus der CDU-Fraktion heraus strukturelle Veränderungen angestoßen werden, ist ein wichtiges Signal für die Ernsthaftigkeit, mit der wir dieses gesamtgesellschaftliche Thema angehen müssen.“ Auch der CDU-Abgeordnete Whittaker stellt fest, man müsse als Koalition an einem Strang ziehen und gemeinsame Lösungen erarbeiten.
Es scheint also, als sei das letzte Wort zu umfassenden Reformen der Sozialversicherung noch nicht gesprochen. Dass die aktuelle Debatte an Fahrt aufnimmt, ist ein Hinweis, dass sich die Koalitionspartner der Bedeutung einer Reform der Sozialversicherung bewusst und Reformen zu erwarten sind.
Bild-Quelle: Von Andreas H. auf Pixabay