Sechs Uhr dreißig. Wecker klingelt. Augen auf.
Das Xylophon-iPhone-Geräusch hallt in seinen Ohren. Er hat etwas Seltsames geträumt, ist wieder mal in irgendeine wirre Geschichte verwickelt gewesen und jetzt ruckartig aus seinem Traum gerissen worden. Aber die Erinnerung ist weg, nur dieses unruhige, mulmige Gefühl bleibt.
Wecker ausmachen, Licht anmachen, ausstrecken und aufstehen, Rollladen hoch, Kleiderschrank auf, Sachen raussuchen – T-Shirt, Pulli, Jeans, Socken – anziehen, Bett machen, lüften – das alles müsste er jetzt eigentlich machen; aber stattdessen liegt er nur dar, starrt an die dunkle Decke, sein Atem geht zeitgleich zum Wecker Piepen.
Sechs Uhr vierzig.
Er sollte jetzt wirklich anfangen, sich fertig zu machen, immerhin hat er viel zu tun und nicht die Zeit, tatenlos rumzuliegen. Er sollte am besten noch schnell den Müll rausbringen gehen, die Müllabfuhr müsste eigentlich jeden Moment kommen und wenn er diese ganzen Abfälle heute nicht entsorgt, dann müsste er sich ehrlich etwas einfallen lassen, was er sonst mit den vollen Tüten machen soll. Ohnehin wäre es gut, wenn er mal wieder zum Supermarkt ginge, neue Müllsäcke hat er nämlich gar nicht mehr und das Obst auf dem Küchentisch sieht auch nicht mehr so aus, als wäre es wirklich genießbar. Er wuschelt sich durch die Haare. Das Geschirr des gestrigen Abendessens liegt noch dreckig in der Spüle, das sollte er heute auf jeden Fall sauber machen, genauso wie die ganze Wäsche aufzuräumen, die er achtlos auf den Boden geschmissen hat, bevor er zu Bett gegangen ist. Wahrscheinlich wäre es am sinnvollsten, wenn er seinen Arzttermin für heute verschiebt – eine Busverbindung raussuchen, durch die halbe Stadt fahren, umsteigen, im Wartezimmer andere Leute höflich begrüßen – nein, heute lieber nicht. Dann sollte er im Laufe des Tages mal kurz anrufen und Bescheid sagen. Eigentlich müsste er dann heute nur noch die ganzen Uni Aufgaben erledigen, die er die letzten Wochen vor sich hergeschoben hat und jetzt gemerkt hat, dass die Abgabefristen immer näher rücken. Wenn er heute damit anfängt, müsste er noch rechtzeitig alles schaffen, aber zum Glück sind das ja nur drei Essays und ein Kommentar und ein paar hundert Seiten trockene Theorie lesen. Danach müsste er noch genügend Zeit haben, um zu duschen und seine Mutter anzurufen, die wäre ansonsten ziemlich enttäuscht, wenn er sich heute mal wieder nicht bei ihr meldet. Er reibt sich die Augen.
Wenn er doch nur nicht so unendlich müde wäre.
Aber das ist nichts, was er nicht mit genügend Kaffee hinkriegen würde, ein, zwei Tassen müssten reichen und dann könnte er heute wirklich mal all diese Aufgaben erledigen. Und heute Nacht würde er endlich wieder rechtzeitig schlafen gehen, dann passt das alles schon wieder, ganz bestimmt, irgendwie.
Sechs Uhr fünfzig. Wecker aus. Stille.
Schon wieder, denkt er. Schon wieder so ein grauer Tag, der genauso anfängt wie all die anderen und an den er sich spätestens nächste Woche nicht mehr erinnert. So langsam verliert er den Überblick. Ist heute Montag, Dienstag, Freitag?
Früher mal ist er abends noch oft unterwegs gewesen und hat jeden Sommertag mit seinen Freunden verbracht, hat die warme Julibrise genossen, die ihm die Haare aus dem Gesicht geweht hat, während seine Füße in einem Pool gebaumelt haben. Er hat neue Menschen kennengelernt und ist in Clubs gegangen und erst spät nachts wieder nachhause gekommen. Früher mal ist er auf Konzerte gegangen und hat Arm in Arm mit wildfremden Leuten die Lyrics seines Lieblingssongs gebrüllt, hat dem singenden Künstler zugejubelt und den Bass in seinen Ohren gespürt. Früher mal ist er ganz spontan durch halb Deutschland gereist, um mal eben so jemanden einfach zu treffen, hat auf Partys in der Ecke gesessen und den Anderen beim Tanzen und „sich – mit – Alkohol – zu – dröhnen“ zugeschaut, während er sich über die schlechte Musik aufgeregt hat. Früher mal hat er Pläne geschmiedet und sich auf die Uni gefreut, auf die vielen neuen Leute, die man trifft, auf die Lesungen, auf die Stunden in der Bibliothek, um Referate vorzubereiten, auf den Uni – Sport, den Uni – Chor, den Uni – Lifestyle, das Uni- übers – Leben – und – die – Zukunft – Philosophieren. Er ist zu Demos gegangen, hat Plakate gebastelt und hat sich für etwas eingesetzt, stark gemacht, für sich gekämpft. Früher mal hat er seinen Geburtstag gefeiert und sich gefreut, noch ein Jahr geschafft zu haben. Er hat sich gefragt, wie das nächste Jahr wohl wird, und an all die Erlebnisse aus dem Letzten zurückgedacht. Früher mal hat er Leuten erzählt, wie es ihm geht. Früher mal ist er auf Dates gegangen, und hat einem Jungen in den Armen gelegen. Und er hat sich sicher gefühlt. Und gedacht, dass er vielleicht doch gar nicht ganz so alleine auf der Welt ist.
Sieben Uhr fünf. Licht an. Hinsetzen. Durchatmen.
Und jetzt? Jetzt hockt er in seiner viel zu kleinen, kalten Ein – Zimmer – Wohnung und sitzt stundenlang vorm Laptop, um zu lernen, sitzt stundenlang vorm Handy, um auf Sprachnachrichten und Memes zu antworten und sich für Videocalls zu verabreden – zur Arbeit fahren ist schließlich okay, nur mit Freunden spazieren gehen, ist momentan einfach unverantwortlich – jetzt versucht er, die ganzen Vorlesungen, die er letzte Woche nicht mehr geschafft hat, diese Woche nachzuholen. Er versucht, über die paar Zoomfilter zu lachen, die einem einen Piratenhut auf den Kopf zaubern, oder über die Geschichten, die ihm Freunde in Telefonaten erzählen, denen er nur zur Hälfte zuhört und deren andere Hälfte das schlechte Wlan verschluckt. Jetzt schaut er endlich alle Netflix – Serien auf seiner Watchlist und weiß am Ende nicht einmal mehr den Namen des Protagonisten. Jetzt hört er endlich die gesamten Diskographien seiner Lieblingsbands und merkt nicht, wann das eine Lied endet und das Nächste anfängt, weil alles irgendwie doch so fucking gleich klingt. Jetzt liegt er im Bett und müsste eigentlich aufstehen und vermisst jemanden, den er schon so lange nicht mehr gesehen hat und fragt sich, wie es ihm geht und ob er wohl auch manchmal an ihn denkt und sich auch seine alten Bilder anschaut und seine Playlist anhört und seine Briefe durchliest. Oder die mit Sternchen markierten text messages.
Sieben Uhr zwanzig.
Aber nicht mehr lange, sagen sie, dann wird alles wieder normal. Nur noch diese zwei, drei Wochen und dann haben wir wieder alles im Griff, sagen sie. Dann können wir uns alle wiedersehen, umarmen. Dann gehen wir wieder in Clubs, auf Konzerte, in die Uni, zur Schule. Denn letztendlich betrifft das ja jeden; die Familien, die zu fünft in einer 80 Quadratmeter Wohnung leben, oder die Senioren aus dem Golfclub, die sich über die Masken aufregen, oder die Obdachlosen, die auf den Straßen durch die Kälte erfrieren oder die Manager der leerstehenden fünf Sterne Hotels, weil keine Touristen mehr kommen. Wir sitzen ja alle im gleichen Boot…
Sieben Uhr dreißig. Aufstehen, Rollladen hoch.
Nur noch diese paar Wochen, bald wird alles wie früher.
Bald wird alles besser.
Die Uhr tickt.