Ich sehe die Menschen dort stehen, am Bahnsteig. Manche laufen hektisch umher, scheinen es eilig zu haben und ärgern sich über das Ausharren an Ort und Stelle. Sie verstehen nicht, wie andere so gelassen bleiben können. Einige warten schon lange, vielleicht, da ihr ursprünglicher Zug Verspätung hat. Wieder andere kamen eben erst und wollen möglicherweise ihren Anschlusszug bekommen. Sie alle warten aus demselben Grund: sich fortzubewegen, fort von diesem Ort zu einem anderen. Eventuell reisen sie in das Bekannte, vielleicht aber auch in die Fremde. Unter all den Menschen könnten sich einige Pendler:innen befinden, die immer wieder hin und her fahren. Andererseits stehen dort gewiss auch Personen, welche zum ersten Mal eine lange Reise machen. Wer weiß das schon? Ein paar Menschen haben große Koffer bei sich. Was sich darin wohl befinden könnte, frage ich mich. Unnötige Last? Andere haben kleine Taschen dabei, nur das Nötigste.
Dann kommt der Zug. Es ist ein ICE, der schnellste Zug hier in Deutschland. Schon von Weitem ist er zu erkennen und die Menschen stehen von den Bänken auf. Ich sehe Freude in ihren Augen, aber auch Tränen. Abschied. Vorfreude. Erleichterung. Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Ein paar Menschen rennen los, um den Zug noch zu erreichen. Sie wollen ihn nicht verpassen, sonst fährt er ohne sie los und sie müssten auf den nächsten warten. Mitfahrende steigen aus. Sie laufen an den Wartenden vorbei, sind bereits an ihrem Ziel angekommen. Eventuell fahren sie aber auch mit einem anderen Zug weiter, weil dieser sie nicht an ihren gewünschten Ort bringen kann. Oder sie merkten, dass sie sich im falschen Zug befanden. Nachdem alle ausgestiegen sind, betreten die wartenden Menschen den Zug. Er füllt und füllt sich immer mehr. Einige suchen sich einen Platz zum Sitzen, da sie wissen, dass ihre Fahrt dauern wird. Andere bleiben stehen. Möglicherweise steigen sie bereits an der nächsten Station aus. Auf der Fahrt treffen ein paar Menschen alte Bekannte im Zug und unterhalten sich über ihren zurückgelassenen Ort und ihr Ziel. Andere halten Smalltalk mit Mitfahrenden und wieder andere sitzen sich schweigend gegenüber, vielleicht kreuzen sich ihre Blicke für einen Moment.
So viele Menschen sitzen in der Bahn, wer weiß, wahrscheinlich sehen sich einige nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Der Kontrolleur bzw. die Kontrolleurin kommt im Laufe der Fahrt vorbei und fragt nach den Fahrkarten. Ein paar Personen haben keine, vielleicht verloren, vielleicht gestohlen? Daraufhin müssen sie wieder aussteigen, dürfen nicht weiterfahren. Andere schaffen es, den Zug zu verlassen, bevor sie überhaupt kontrolliert werden. Der ICE fährt schnell, der Wind peitscht an die Scheiben. „Nächste Station, Karlsruhe Hauptbahnhof. Next station, Karlsruhe main station“ ertönt es aus den Lautsprechern. Ein paar Fahrgäste stehen auf und laufen an die Türen, manche verabschieden sich von ihren Bekannten oder den Fremden, die sie auf der Fahrt kennengelernt hatten. Sie scheinen an ihrem Ziel angekommen zu sein. Der ICE hält an und die Menschen verlassen ihn. Ob sie an ihrem Zielort bleiben oder wieder zurückfahren werden, frage ich mich. Ich werde es wohl nie erfahren. So viele Menschen – wir sitzen alle in demselben Zug und doch weiß ich nichts über sie, über ihren Abfahrts- und Ankunftsort. Und sie ebenso nichts über mich. Ist es nicht erstaunlich, wie unterschiedlich jeder einzelne Fahrgast ist und doch verbindet uns diese Reise? Der Zug beginnt, sich zu leeren, je weiter wir fahren. Immer öfter kommt der Kontrolleur bzw. die Kontrolleurin vorbei. Der Zug steuert im schnellstmöglichem Tempo auf die nächste Station zu. Ich schaue mich um. Die Menschen sehen müde aus, müde von der langen Reise. Einige haben tiefe Augenringe, sichtbar trotz all des Concealers. Sind sie glücklich, frage ich mich? Reisen sie, weil sie es müssen oder weil sie es wollen? Tun sie es für andere oder für sich? Sie und ich, wir sind in diesen ICE eingestiegen, den schnellsten Zug Deutschlands. Warum? Wir hätten doch auch mit einem Regionalzug fahren können oder gar einem Bus? Doch wir alle präferieren die schnellstmögliche und bequemste Möglichkeit. Denn Zeit ist begrenzt, ist Entschleunigung also Verschwendung?
Eigentlich werde ich erwartet. An meinem Zielort. Doch ich habe keine Zeit mehr, keine Zeit mehr zu haben. An der nächsten Station steige ich aus. Sie ist weit von meinem Ankunftsort entfernt, doch sie erscheint mir der perfekte Ort, um mich auf eine Bank zu setzen und den Menschen zuzusehen.
Ich sehe die Menschen dort stehen, an einer Station ihres Lebens, sehnsüchtig wartend auf einen Zug des Lebens. Wie im Bahnverkehr gibt es viele verschiedene. Sie fahren unterschiedliche Wege. Manche Menschen laufen hektisch umher, scheinen möglichst schnell ihr Lebensziel erreichen zu wollen und ärgern sich über das Ausharren an Ort und Stelle. Sie verstehen nicht, wie andere so gelassen bleiben, wie sie völlig seelenruhig dasitzen und sich denken können, dass der Zug des Lebens schon kommen wird und falls nicht, sie jederzeit einen anderen finden würden. Einige Menschen warten schon lange darauf, endlich weiterzukommen, einen neuen Teil ihres Lebens zu erkunden, andere müssen nicht lange an einem Punkt ausharren und kommen direkt weiter. Haben es Erstere schwerer? Nun, so gut wie jeder Mensch muss einmal länger auf Veränderung warten, so haben es Erstere möglicherweise sogar einfacher, weil sie fähig sind, Geduld walten zu lassen. Manche Personen haben die Chance, einen anderen Weg zu gehen, andere warten bis ihnen jener möglich ist. Die einen müssen den bald kommenden Zug vielleicht nehmen, da ihr ursprünglicher Verspätung hatte. Andere befinden sich bereits länger auf einer Reise zu einer neuen Station ihres Lebens. Sie alle warten aus demselben Grund: sich fortzubewegen, fort von ihrem alten Alltag und Leben, hin zur Veränderung. Womöglich enden sie an einer schon bekannten Stelle ihres Lebens, vielleicht beginnen sie aber auch komplett von vorne. Unter all den Menschen könnten einige Pendler:innen sein, die immer wieder einen Schritt weiterkommen, dann aber wieder zurückkehren und in diesem Kreislauf zwischen Zukunft und Vergangenheit gefangen sind. So bewegen sie sich nie wirklich fort.
Vielleicht warten aber auch Menschen auf den Zug des Lebens, die zum ersten Mal ein völlig neues Kapitel ihres Lebens beschreiten. Wer weiß das schon? Ein paar Menschen haben Päckchen bei sich. Was sich darin wohl befinden könnte, frage ich mich. Erinnerungen? Ängste? Verborgene Gefühle? Man sagt, jeder Mensch besitzt eins und trägt es immer mit sich herum. Manche sind größer, andere kleiner. Dann kommt der Zug des Lebens. Er ist sehr schnell, sagen einige. Andere verlassen ihn bereits früher, als sie müssten. Sie halten das Gedränge nicht mehr aus. Schon von Weitem ist er zu erkennen und die Menschen machen sich bereit. Ich sehe Freude in ihren Augen, aber auch Tränen. Abschied, von geliebten Menschen, von der Vergangenheit. Vorfreude, auf die Zukunft. Erleichterung, dass ihre Reise endlich weitergeht. Der Zug des Lebens hat sie schon beinahe erreicht. Ein paar Menschen rennen los, um ihn noch zu erreichen. Sie wollen ihn keinesfalls verfehlen, sonst verpassen sie vielleicht wichtige Gelegenheiten für ihre Zukunft und bleiben an Ort und Stelle stecken. Mitfahrende steigen aus dem Zug des Lebens aus. Sie laufen an den Wartenden vorbei. Vielleicht hatten sie kein Ticket oder ihre Reise durch das Leben war bereits vorbei. Möglicherweise fahren sie aber auch mit einem anderen Zug des Lebens weiter, weil dieser sie nicht an ihr Lebensziel bringen kann. Oder sie merkten, dass sie sich auf dem falschen Weg befanden, schließlich gibt es so viele verschiedene. Manchmal entscheiden wir uns ganz spontan um.
Nachdem alle ausgestiegen sind, betreten die wartenden Menschen den Zug des Lebens. Er füllt und füllt sich immer mehr. Einige suchen sich einen Platz zum Sitzen, da sie sich sicher sind, dass dieser Lebensweg der Richtige für sie ist und sie erstmal nicht mehr aussteigen müssen. Andere bleiben stehen. Eventuell verlassen sie bereits an der nächsten Station des Lebens den Zug. Auf der Reise durch ihre Leben treffen einige Personen alte Bekannte und unterhalten sich über ihre Vergangenheit und Zukunft. Andere halten Smalltalk mit Fremden, welche sie wohl nicht lange auf ihrer Reise begleiten werden und wieder andere sitzen sich schweigend gegenüber. Vielleicht kreuzen sich ihre Blicke für einen Moment, doch in diesem Leben werden sie sich nie kennenlernen. So viele Menschen machen gerade eine Reise durch ihr Leben, wer weiß, womöglich sehen sich einige von ihnen nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal? Der Tod kommt im Laufe der Fahrt vorbei und fragt nach den Fahrkarten. Ein paar Fahrgäste haben keine, vielleicht verloren, vielleicht gestohlen? Daraufhin müssen diese aussteigen. Ihnen wurde die Chance genommen, das Leben weiter zu erkunden. Andere schaffen es, den Zug zu verlassen, bevor sie überhaupt vom Tod kontrolliert wurden und suchen sich schnell einen neuen Lebensweg, diesmal mit Ticket. Der Zug fährt schnell, der Wind peitscht an die Scheiben. „Nächste Station, Schulabschluss. Next station, school diploma“ ertönt aus den Lautsprechern. Ein paar Reisende stehen auf und laufen an die Türen, manche verabschieden sich von ihren Freunden, Bekannten oder den Fremden, die sie auf der Reise flüchtig kennengelernt haben und gehen ihre eigenen Wege. Sie scheinen an ihren Zielen angekommen zu sein. Der Zug hält an und die Menschen verlassen ihren bisherigen Lebensweg. Ob sie an ihrem Zielort bleiben oder wieder zurückfahren werden, frage ich mich. Ich werde es wohl nie erfahren. So viele Menschen – wir alle machen zusammen eine Reise durch das Leben und doch weiß ich nichts über sie, über ihre Vergangenheit und Zukunft. Und sie ebenso nichts über mich. Ist es nicht erstaunlich, wie unterschiedlich jeder einzelne Fahrgast ist und doch verbindet uns alle das Leben? Der Zug beginnt, sich zu leeren, je weiter wir fahren. Immer öfter kommt der Tod vorbei. Das Leben steuert in schnellstmöglichem Tempo auf die nächste Station zu. Ich schaue mich um. Die Menschen sehen müde aus, müde, von der langen Reise. Einige haben tiefe Augenringe, sichtbar trotz all des Concealers, der versucht, ihre Erschöpftheit, ihren Stress, ihre Ängste zu verbergen. Sind sie glücklich, frage ich mich? Reisen sie zur nächsten Station ihres Lebens, weil sie es müssen oder weil sie es wollen? Tun sie es für andere oder für sich? Sie und ich, wir sind in genau diesen Zug des Lebens eingestiegen, in den schnellsten. Warum? Wir hätten doch auch mit einem langsameren fahren können? Doch wir alle präferieren die schnellstmögliche und bequemste Möglichkeit. Denn Zeit ist begrenzt, wir sollten sie nicht verschwenden. Doch was ist, wenn wir neben all dem Stress etwas übersehen? Was ist, wenn wir, gerade weil wir versuchen Zeit zu sparen, Zeit verschwenden? Mit planen, mit Angst haben, den Anschlusszug oder den Termin zu verpassen, mit unglücklich sein?
So sind die Menschen. Sie leben ein schnelles Leben, kaum Pausen, kaum Zeit zum Atmen. Sie leben in der Zukunft, werden von ihrer Vergangenheit verfolgt und ihre Zugfahrt, ihre Gegenwart – die verschlafen sie. Doch sie ist alles, was ihnen bleibt. Denn die Vergangenheit lässt sich nicht ändern und die Zukunft ist völlig ungewiss. Dies trifft nicht auf alle Menschen zu. Einige schließen gute Bekanntschaften, sogar Freundschaften auf ihrer Reise. Andere steigen gar nicht erst in den schnellsten Zug ein, denn sie wissen, im langsameren haben sie mehr Zeit zum Entspannen, mehr Zeit für sich selbst, mehr Zeit, Freundschaften überhaupt erst aufblühen zu lassen. Ab und zu fahren auch sie mit einem ICE, an anderen Tagen wieder mit einem Regionalzug oder Bus. Sie wissen, wie teuer das Fahren mit einem schnellen Zug ist, welchen Preis er ihnen abverlangt: Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Unglücklichsein. Doch was ist mit den Menschen, die sich immer nur für den ICE entscheiden? Sind sie verloren? Verloren im Laufe der Zeit? Worum geht es ihnen? Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Bis zum Umfallen? Karriere, Geld, Reichtum, Selbstoptimierung um jeden Preis. Ist das alles, was zählt? Ist das ein wertvolles Leben? Ohne Pausen zum Atmen, Ausharren, Nachdenken? Ist das, was sie wollen? Gehen sie abends nach Hause und denken: „Das war ein erfüllender Tag!“ Oder sind ihnen all ihre Verpflichtungen, all die noch nicht vollendete Arbeit, in Gedanken noch immer gegenwärtig? Hasten sie von Termin zu Termin, von Erwartung zu Erwartung oder setzen sich einmal hin und fragen sich: Ist es das wert? Mal ganz ehrlich, welche Momente empfinden die Menschen als ihre schönsten? Wenn sie ständig auf die Uhr schauend von Ort zu Ort hechten? Ist diese Hektik den Energieaufwand wert? Denn die Energie des Menschen nimmt stetig ab und ist begrenzt, begrenzt auf vielleicht 70, 80 Jahre, wenn er Glück hat. Einige werden sagen, dass der Weg, den sie vor sich haben, den Aufwand wert ist und bleiben im schnellsten Zug des Lebens sitzen, andere zweifeln und steigen aus, um einen anderen Lebensweg, einen langsameren zu gehen. Denn die wirklich schönsten Momente sind doch jene, in denen die Menschen für einen Moment anhalten, in den Himmel schauen, die frische Luft einatmen, einen schönen Abend verbringen und das Lachen ihres Gegenübers hören. Dann, wenn die Zeit stillzustehen scheint.
Hier sitze ich nun also. Vor nicht allzu langer Zeit befand auch ich mich in einem solchen ICE. Jetzt sitze ich auf einer Bank. Die Sonne zeigt mir ihr Gesicht und ich zeige ihr meins. Ich atme, ein und aus. So langsam und tief, wie ich will. Ich kann einen anderen Zug nehmen, denke ich, denn ich habe es nicht mehr so eilig.
Bildquelle: https://pixabay.com/images/id-2373323/ [Eingesehen am 18.01.23]
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Dein Beitrag hat mir richtig gut gefallen:) Auch ein sehr schönes Thema
Das ist aber lieb von dir, danke schön 🙂 Es freut mich sehr, dass dir mein Artikel gefallen hat!