Ich bin auf meinem Weg nach Hause. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern – es wird Frühling. Einige Menschen sind auf der Straße unterwegs und laufen an mir vorbei. Eine Frau fährt mir mit einem Fahrrad entgegen. Doch plötzlich stoppt sie, steigt ab. Sie schaut auf, in einen Baum, geschmückt mit dutzenden rosa Magnolien. Einige Blüten liegen bereits auf dem Boden, unter den vielen Fußstapfen erdrückt. Aber jene, hoch oben auf dem Baum – blühen aus voller Kraft und glitzern im Sonnenlicht. Während ich mich der Frau nähere, beobachte ich sie. Sie steht nun also da, unter den Blüten und – sie beginnt zu lächeln, greift nach ihrem Handy und schießt ein paar Fotos. In diesem Moment gehe ich an ihr vorüber und werfe im Vorbeigehen ebenfalls einen Blick auf die Magnolien. Sie sind es wahrlich wert, für sie anzuhalten.
Die kleine Freude, die ihr die Blumen schenkten, war ihr anzusehen – in ihren strahlenden Augen. Dieser Anblick bereitete mir selbst auch eine kleine Freude und auf einmal schoss mir ein Gedanke in den Kopf: Der Mensch ist ein äußerst ambivalentes Wesen.
Ich bewundere die Menschen: Sie lassen sich von den noch so kleinsten Dingen begeistern, sei es die Farbe des Himmels, das Dessert auf dem Teller oder eben ein duftender Magnolienbaum. Die Menschen bleiben extra länger wach, um den Sonnenuntergang zu bestaunen und stehen extra früher auf, um mit einem warmen Sonnenaufgang in den Tag zu starten. Sie suchen Nähe zu anderen Menschen, geben sich Küsse auf die Wangen oder legen ihre Hände ineinander, wenn sie sich begegnen. Sie machen Komplimente, ohne im Gegenzug etwas zu erwarten und wenn es um Geschenke geht, so setzen sie sich mit den Interessen des zu Beschenkenden auseinander. Die Menschen teilen. Sie teilen Häuser, damit sie nicht einsam sind, teilen Gedanken – bis spät in die Nacht, wenn sich die Erde schlafen legt. Sie teilen Trauer, Wut, Freude und Ängste, überraschen ihre Freunde an Geburtstagen mit einem Kuchen und erinnern sich an Kleinigkeiten, die für jemanden so viel bedeuten. Die Menschen gestehen sich Fehler ein, akzeptieren einander und sind offen für Ideen, die abseits ihrer eigenen liegen. Sie versprechen sich, ein Leben miteinander zu verbringen und schauen einander so lange in die Augen, bis einer der beiden verlegen den Blick abwendet.
Es ist kaum in Worte zu fassen, wie viel die Umarmung eines Menschen bedeuten kann – ein Gefühl absoluter Geborgenheit – welches Glück man empfindet, gemeinsam mit Freunden zu lachen, sodass nach Luft gerungen werden muss. Zu wissen, wie unfassbar stark die Menschen sein können, wie sie Krisensituationen bewältigen können, wie sie für sich und andere kämpfen, Rechte einfordern, mit einer solchen Hartnäckigkeit, dass sie unaufhaltsam werden – das bewundere ich. Ich bewundere ihre Selbstlosigkeit sowie ihren Egoismus in dem Sinne, dass sie auf sich selbst aufpassen und sich wertschätzen. Ich bewundere, dass Menschen ihr ganzes Leben der Forschung widmen, die Kranken eine höhere Lebensqualität bieten soll und so viel dafür tun, die Menschheit einen Schritt weiterzubringen. Ich bewundere, wie viel Liebe sie zu schenken in der Lage sind, wie viele Lächeln sie an Fremde auf der Straße schenken, dass sie Älteren im Bus ihre Plätze anbieten oder stehen bleiben und warten, wenn einer ihrer Freunde seinen Schuh zubindet.
Ich sitze in der Küche, lese Nachrichten auf meinem Laptop. Mein Bauch grummelt bereits vor Hunger und obwohl die Aufbackbrötchen im Ofen langsam zu Stein werden, schaffe ich es nicht meine Augen vom Bildschirm abzuwenden. Die Bilder des Krieges fesseln mich, machen mich bewegungsunfähig. Überall Körper aus denen all Leben wich, aus denen Leben geraubt wurde – nichts weiter als leere Hüllen. Es ist nicht erkenntlich, ob sie selbst Schütze oder Ziel waren – vielleicht waren sie beides.
Ich verspüre Wut und vielleicht auch Furcht. Wut gegenüber der Taten der Menschen – Furcht gegenüber der Menschen selbst. Die Menschen sind in der Lage zu verletzen – verbal und physisch – sie manipulieren, lügen und zerstören. Sie benachteiligen andere Menschen wissentlich, grenzen einander aus, zerreißen sich den Mund übereinander. Sie genießen ihren Luxus auf den Schultern der Armen – verdrängen lieber, als etwas zu ändern. Zu oft denken sie nur an sich selbst, ihre Wahrnehmung beschränkt sich allein auf die Gegenwart – Folgen für die Zukunft tangieren sie nicht. Sie lassen sich nicht zur Verantwortung ziehen und beharren auf ihrer Herrlichkeit. Die Menschen leben in Selbstzerstörung und obwohl sie es wissen, hören sie nicht auf. Sie haben einen unstillbaren Durst nach mehr und gehen selbst für das kleinste Tröpfchen über Leichen. Die Menschen können so unreflektiert und kurzsichtig sein, sie schreien sich an und nutzen Worte als Waffen … oder auch echte. Sie machen sich alles und jeden zu Untertan, ihre Macht ist grenzenlos – das glauben sie. Berge aus Lügen, Flüsse aus Blut, die Sonne brennt wie es die verächtlichen Beleidigungen auf der Zunge tun. Die Menschen hassen. Sie können aus tiefstem Herzen hassen und dann … dann können sie genauso aus tiefstem Herzen lieben.
Ich bin ein Mensch. Doch immer wieder frage ich mich, was es heißt, Mensch zu sein. Es wird immer gesagt, wir seien soziale Wesen und ja – sicher sind wir das, wir brauchen Kontakte zu anderen, denn Isolation schadet uns. Doch gleichzeitig verabscheuen wir jene, die in unseren Augen anders sind, nicht in unser Weltbild passen.
Wir halten uns für so schlau, für die überlegene Spezies, preisen unsere Wissbegier und alles übertreffende Intelligenz an – wir nannten uns einmal Homo sapiens, doch frage ich mich immer wieder, ob wir uns mit der Weisheit nicht maßlos überschätzten.
Ich frage mich auch, wozu ich als Mensch in bestimmten Situationen fähig wäre und ob ich mich selbst überraschen oder enttäuschen würde. Ich frage mich, wie viel Menschlichkeit von den Menschen erwartet werden kann – ein Wort, dass wir meist benutzen, um unsere positiven Eigenschaften hervorzuheben. Doch vielleicht nutzen wir allein dieses Wort bereits falsch. Das Menschliche, dass den Menschen betreffende – wie es im Duden steht – ist nun mal nicht nur positiv. Die Ambivalenz der Menschen bringt mich immer wieder zum Staunen und lässt mich darüber nachdenken, wie wir letztendlich einzuschätzen sind. So viele Philosophen stellten sich die Frage, was der Mensch denn von Natur aus sei: Gut oder Böse? Nun, womöglich ist er beides.
Bildquelle: https://pixabay.com/de/vectors/mensch-schwarz-zwei-k%C3%B6pfe-skulptur-297674/ [Eingesehen am 3. April 2024]