Am Freitag der Frankfurter Buchmesse wurde Renate Künast von der ARD zu ihrem Buch „Hass ist keine Meinung“, der Verrohung des Diskurses im Internet und möglichen Gegenmaßnahmen interviewt.
Schon die erste Frage an Renate Künast war die, wann sie denn zuletzt so richtig beleidigt wurde. Sie antwortete, sie könne sich nicht daran erinnern. Was zunächst klang, als hätte ihr Buch oder das Thema des Interviews weniger Berechtigung als erwartet, stellte sich als ganz anders heraus: Künast wies darauf hin, dass sie so oft solche negativen oder beleidigenden Inhalte erhalten würde, dass sie sich einfach nur an die anderen, wertschätzenden erinnern könne.
Damit war das Thema perfekt eingeleitet: als Abgeordnete im Bundestag, und dann auch noch von einer links und grün gerichteten Partei, erhält Renate Künast regelmäßig beleidigende und drohende Nachrichten – meist anonym, aber erschreckenderweise nicht immer. Die Grundlage ihres Buches „Hass ist keine Meinung“ bildete die Idee, mit genau den Verfassenden dieser Nachrichten zu sprechen – und den Anfang einer Reihe von Hausbesuchen, zusammen mit einer Journalistin. Künast berichtete von Überlegungen beim Klingeln: Klingeln würde sie schon, aber „klingeln und einen Schritt zurücktreten“. Und einmal wären sie an einem so abgelegenen Haus angekommen, dass sie vorgeschlagen habe, das Auto in Richtung Rückweg zu parken – das würde bei einem fluchtartigen Aufbruch einen Vorsprung verschaffen.
Rückmeldung der Verfassenden und der große Zusammenhang
Generell wären die meisten der Besuchten etwas zerknirscht gewesen, so die Politikerin. Einige hätten sich sogar entschuldigt, mit anderen habe sie sich lange unterhalten, teilweise wollten die Verfasser beleidigender Nachrichten gar ein Foto mit ihr machen. So schnell könne sich der Umgang ändern, wenn Politiker*innen auf einmal nicht mehr als unnahbar wahrgenommen würden. Spannend sei auch, wie oft der Kommentar „Meine Frau meint auch immer, so etwas schreibt man nicht“ gefallen wäre. Anscheinend habe sich eine Kultur etabliert, in der nicht mehr über Beiträge im Internet nachgedacht wird. „Ich dachte gar nicht, Sie würden es lesen“ habe sie ebenfalls sehr oft gehört. Offenbar setze sich durch den generell verschärften Ton im Netz niemand mit den Folgen auseinander, die solche Nachrichten für die Adressierten haben.
Genau mit diesen Folgen setzt sich Renate Künast selbst erstaunlich wenig auseinander: Solche Menschen würden nicht die betroffenen Politiker*innen persönlich meinen, sondern eigentlich sich selbst oder die Gesellschaft. Ab und zu Abstand zu nehmen, wäre trotzdem wichtig.
Als wichtiger Satz habe sich „Endlich kümmert sich auch mal jemand um uns“ herausgestellt. Künast betonte, wie viel komplizierter die Welt gerade wird und wie sehr dabei manchmal der Alltag einzelner Menschen untergeht – obwohl es das ist, was die meisten beschäftigt. Deshalb sollten alle Menschen mehr Teilhabe angeboten bekommen. So würde es auch wieder selbstverständlicher, in normalem Umgangston miteinander zu reden – was gerade mögliche Helfende und andere Engagierte in der Gesellschaft (zum Beispiel Lehrende und Erziehende) abschreckt.
Was muss sich ändern?
Anschließend ging es um einen Ausblick in die Zukunft. Angesprochen auf das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (das es Facebook vorschreibt, Hass-Posts innerhalb von 24 Stunden zu löschen) betonte Künast ihre kritische Haltung dieser Einigung. Der Begriff wäre zwar ein guter Zug für Scrabble, dem Gesetz fehlten aber wichtige Aspekte. Die wichtige Frage, was die Grenzen des Erlaubten überschreitet, könne nicht an die Konzerne selbst abgegeben werden. Stattdessen müsste das von Staatsanwält*innen und Richter*innen entschieden werden – die auch viel besser als Konzerne den Zusammenhang erkennen können: klare Satire erlaubt schließlich noch viel mehr als die allgemeine Redefreiheit.
Diese wichtige Redefreiheit führe manchmal auch zu Ernüchterung: meistens bewegten sich Urhebende solcher Nachrichten gerade unter der Grenze des nach dem Bundesgerichtshof als illegal Definierten. Daher betonte Künast die Verantwortung aller Bürger*innen: wenn weiter auch Aussagen gegenüber Politiker*innen nicht als Straftat gewertet würden, die zum Beispiel gegen Staatsanwält*innen klar unter diese Definition fielen, müsse sich in der Zivilcourage mehr tun. Kinder und Jugendliche müssten stärker in der Gesellschaft unterstützt werden, andererseits müsse organisierter Hass im Netz bekämpft werden.
Am Ende kam noch das Thema des vergangenen TV-Duells zwischen Angela Merkel und Martin Schulz auf. Künast kritisierte die Fragestellung, die fast ausschließlich Themen von rechts außen bediente und sich zu stark auf Geflüchtete fixierte. Fragen wie die danach, wann „die wieder weg“ wären, hätten viel wichtigere Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und Bildung verdrängt. Schon dort hätte sich die Verschiebung des Diskurses gezeigt – die Gesellschaft müsste sich endlich kollektiv wehren.
Um es dabei nicht bei einem Appell zu belassen, nannte Künast als Beispiel den Hashtag #ichbinhier. Niemand müsse heldenhaft handeln, aber könne anfangen, die eigene Stimme zu erheben: bessere Ausstattung fordern, Beleidigungen entgegentreten, auf Unrecht hinweisen. So könne sich das Klima dahin ändern, dass Hass bald weniger Platz darin hat.