Wenn journalistische Ausgewogenheit zum Problem wird.

„Ich lasse mich nicht impfen, ich bin doch gesund und wer weiß, was da drin ist.“

„Nur weil die Mehrheit der Wissenschaft einen menschengemachten Klimawandel belegt, heißt das ja noch lange nicht, dass das auch stimmt! Früher dachten auch alle Wissenschaftler, die Erde sei flach.“

„Das mit Corona ist doch nur eine einzige große Verschwörung! Aber sowas darf man heutzutage ja gar nicht mehr sagen…“

Solche oder ähnliche Aussagen kursieren seit einiger Zeit nicht nur im Internet, sondern auch in unserem direktem Umfeld – ein überhörtes Gespräch in der Bahn, Beschwerden während des Einkaufens oder Diskussionen im Bekanntenkreis. Unser Alltag wimmelt mittlerweile von Twitter Trends, Politik Skandalen und Virologen Podcasts.
Mit der Pandemie, der Klimakrise und einer fortschreitenden Globalisierung und Vernetzung leben wir in Zeiten neuer, ungewisser Herausforderungen und Hürden. Dabei spaltet sich die öffentliche Meinung zu eben diesen Themen immer mehr – aber: Woran liegt das überhaupt?

Zunächst ist es wichtig, festzustellen, woher die Skepsis und der starke Diskussionsdrang, der momentan so häufig zu beobachten ist, herkommt. Denn eine zentrale Rolle spielen dabei die Presse und die Medien. Der Ort, an dem die meisten Menschen überhaupt erst an neue Informationen und ihr Wissen gelangen, wird nun auch zur Grundlage von Diskussionen jeglicher Art und Ausmaße. Das liegt insbesondere an der Art des Umgangs einiger Medien mit Ansichten, die auf wissenschaftlich haltlosen Hypothesen basieren, die verfassungswidrig oder demokratiefeindlich sind. Social Media nimmt dabei nochmal eine gesonderte Position ein. Wie wir von Neuigkeiten erfahren, beeinflusst schließlich maßgeblich, wie wir im Anschluss darüber denken und reden.

Im Journalismus gibt es ein wichtiges Prinzip: die Ausgewogenheit. Tritt in einer Talkshow ein:e Politiker:in auf, so wird in aller Regel ein Gast oder eine Gästin mit der Gegenposition eingeladen. Die beiden diskutieren über ihre Ansichten und die Zuschauer:innen können so das Für und Wider abwägen und sich ihre eigene Meinung bilden. Aber was passiert, wenn Journalist:innen dieses Prinzip der politischen Berichterstattung auf die Darstellung von wissenschaftlichen Positionen übertragen?

Genau dieses Phänomen nennt sich False Balancing, zu Deutsch „Falsche Ausgewogenheit“. Gemeint ist dabei die gleiche Gewichtung zweier Positionen, obgleich die wissenschaftliche Beleglage klar für eine Seite spricht.
Besonders deutlich wird dieser Aspekt in der Debatte rund um die Klimakrise. Der überwiegende Teil der Wissenschaft ist davon überzeugt, dass der Klimawandel durch den Menschen entstanden ist. Das geht auf zahlreiche Studien aus jahrelanger Forschung zurück. Man spricht hier auch von der Konsensmeinung. Das Gegenteil, die Minderheitenmeinung, sind demnach Positionen, die nicht faktenbasiert sind und auch so gut wie gar nicht wissenschaftlich anerkannt sind.

Nun gibt es trotzdem zahlreiche Interviews, in welchen sowohl Klimaforscher:innen, als auch -leugner:innen gleichermaßen auftreten. Sie diskutieren also beide über ihre Ansichten miteinander, mit der gleichen Sprechzeit und einem:einer neutralen Moderator:in oder einem:einer unparteilichen Reporter:in, wie in jedem anderen Interview auch.
Die Konsequenz ist in diesem Fall jedoch weniger unscheinbar: Der faktenbasierte Konsens der Wissenschaft wird falsch gewichtet. Es entsteht also fälschlicherweise der Eindruck bei den Zuschauer:innen, dass Minderheiten- und Konsensmeinungen gleichwertig seien. Es kommt also zu einer medialen Verzerrung.

Mit einem Blick in die Corona-Pandemie ist hierbei eine wichtige Entwicklung zu beobachten: Seit 2020 ist die Präsenz von wissenschaftlichen Themen in den Medien enorm gestiegen. Immer häufiger wird wissenschaftliche Expertise verlangt oder zur Diskussion auf etlichen sozialen Plattformen. Auch das steigert das mögliche Ausmaß von False Balancing. Die Auseinandersetzung darüber, ob Corona wirklich existiert oder ob Impfungen nun wirksam sind oder nicht, sind wohl kaum einem entgangen. Dabei gibt es ein breites Spektrum, von Menschen, die eine sehr skeptische und besorgte Haltung gegenüber Impfungen haben bis hin zu teils rechtsradikalen Verschwörern. Erinnert man sich aber an die Leugnung von AIDS, oder der Glaube, Impfungen würden Autismus auslösen, so wird deutlich, dass Corona definitiv nicht die erste Situation ist, die Diskussionen dieser Art hervorgebracht hat.
Schließlich ist die Tabakindustrie ebenfalls ein treffendes Beispiel für den Fall, in dem die journalistische Ausgeglichenheit ausgenutzt wird. Noch vor wenigen Jahren waren Diskussionen über die Gesundheitsfolgen des Rauchens nicht allzu selten. Dabei stellten unterschiedliche Tabakkonzerne den Zigarettenkonsum als vermeintlich unbedenklich oder zumindest weniger risikohaft dar, als er wissenschaftlich eigentlich ist. Ein ähnlicher Trend lässt sich derzeit in der Diskussion über e-Zigaretten vermuten.

Nun stellt sich aber die Frage: Wie kommt es überhaupt zu False Balancing, wieso lassen Journalist:innen eine solche Darstellung zu?

Einerseits kann falsche Gleichgewichtung durch ein Paradox entstehen. Prinzipiell haben Redakteur:innen es sich zur wichtigsten Aufgabe gemacht, neutral und ausgeglichen zu rapportieren. Nur über eine Position zu berichten, wäre unsachlich und sozusagen verzerrt. Dass zumindest in wissenschaftlichen Kontexten eben dieses Vorgehen eigentlich erst eine Verzerrung auslöst, ist beinahe ironisch. Auf der anderen Seite lässt sich an dieser Stelle aber auch der Sensationalismus anbringen. Wenn der Fokus mehr auf rasanten, reißerischen, polarisierenden Themen liegt, statt auf professioneller Berichterstattung, dann kann das zum Problem werden. Vor allem auf Social Media bringen mehr Klicks, Likes und Kommentare mehr kommerziellen und wirtschaftlichen Erfolg. Und das lässt sich durch Interviews mit wirren Aluhutträgern eben schneller erreichen, als mit rationalen Fakten über die Verbreitung von Viren einer Ärztin.

Auch im Umgang mit einer falschen Gewichtung gibt es verschiedene Ansätze. Beispielsweise stand die BBC schon des Öfteren in der Kritik, insbesondere in Sachen Klimawandel, zu oft Minderheitenmeinungen und Verschwörern eine Plattform geboten zu haben. 2018 stellte die Redaktion daraufhin einen internen Leitfaden auf, der in Zukunft falsche Gewichtungen vermeiden soll. Dabei definiert die BBC Unparteilichkeit nicht nur anhand der Darstellung der Vielfalt der Meinungen, sondern in erster Linie anhand der Gewichtung dieses Meinungspluralismus. Nur, wer den Konsens abbildet, kann so dem aktuellen Forschungsstand gerecht werden. So besteht weiterhin die Möglichkeit, Außenseiter:innen in wissenschaftliche Diskussionen einzuladen, allerdings nicht ohne eine treffende Einordnung dieser Position in die Forschung.

Eine weitere Möglichkeit ist dagegen der proportionale Ansatz. Hier soll die Gewichtung auch numerisch oder zeitlich, beispielweise in Interviews oder Fernsehdiskussionen, repräsentiert werden. Überspitzt bedeutet das: Wenn 97% der Wissenschaftler:innen von einem menschengemachtem Klimawandel ausgehen, dann müssen auch 97-mal so viele Vertreter:innen dieser Position zu Wort kommen können. Oder deren Redezeit muss 97-mal so viel wie die der Minderheitenmeinung betragen. So soll die Eindeutigkeit, die in der Wissenschaft bereits vorliegt, akkurat dargestellt werden.

Nichtsdestotrotz bleibt False Balancing ein umstrittenes Konzept und auch ich konnte mich bisher auf keine klare Seite schlagen. Für mich steht außer Frage, dass eine verzerrte Darstellung des Kenntnisstandes der Wissenschaft weitreichende, problematische Konsequenzen bringen kann. Allein durch die mediale Aufmerksamkeit können so Fake News und Desinformation verbreitet werden, in Zeiten der Digitalisierung schneller denn je.

Gleichzeitig habe ich mich gefragt, wie die Alternative aussehe – einfach über bestimmte Dinge nicht mehr berichten? Sollten Diskurs und Diskussion nicht weiterhin zentraler Bestandteil der Medienwelt bleiben, auch zu kontroverseren Themen? Schließlich sollte eine wissenschaftlich sehr viel fundiertere Position in einer Diskussion nicht auch als solche erkennbar sein und dementsprechend viel mehr Überzeugungskraft mit sich tragen? Würde es nicht noch mehr Spaltung auslösen, wenn wir Minderheitenmeinungen nicht mehr thematisieren und sich dann die Anhänger:innen dieser Positionen immer weiter in Telegram-Gruppen und Facebook Bubbles verlieren? Wo läge die Grenze, was ist wissenschaftlich genug und was nicht und wer entschiede das?

Und vor allem: Was passiert, wenn wissenschaftliche Positionen und politische Diskussionen sich überschneiden, wie wir es jetzt durch die Pandemie so oft erleben?

In diesem Punkt spitzt sich für mich das zentrale Problem rundum False Balancing zu. Denn nüchtern  betrachtet, ist es selten, dass Wissenschaft und Politik in den Medien wirklich klar voneinander zu trennen sind. Inwiefern das sogar gefährlich sein kann, hat die Berichterstattung zu Trumps Präsident-Zeiten verdeutlicht: Die Empfehlung, Bleichmittel gegen Corona zu trinken, kostete einigen Menschen das Leben und die angebliche Wahlfälschung, die nicht nur von Trump selbst auf seinem Twitter Account, sondern auch von verschiedenen US-amerikanischen Medien angeprangert wurde, löste schließlich die Unruhen vor einem Jahr aus, die Bidens Amtseinführung zwei Wochen danach überschatteten.

Unabhängig davon, wie sich schließlich Redaktionen entscheiden, False Balancing zu handhaben, die Bedeutung und Verantwortung der Presse war noch nie so spürbar wie jetzt. Und mit Social Media taucht eine neue Vernetzungsart auf, die schneller, interaktiver und aktueller ist, als es Zeitungen je waren. Schlussendlich werden soziale Netzwerke aber vor allem durch seine Nutzer:innen bestimmt – wir sind es, die die Wahl haben, Nachrichten zu verbreiten, unsere Meinung bekannt zu machen und Schwurbler:innen Paroli zu bieten.

Wir selber haben also die Chance, Medien zu gestalten. Die Frage ist bloß, was wir daraus machen.


Quelle Beitragsbild: https://pixabay.com/de/photos/demonstration-hamburg-g20-menschen-2477988/