Kulturen beeinflussen, welche Sprache wir sprechen, wie wir uns kleiden und welches Gericht wir mit unserer Kindheit verbinden. Das ist weithin bekannt. Doch Kulturen können noch viel mehr: Untersuchungen zeigen, dass sie auch unsere Wahrnehmung und die Art und Weise, wie wir denken, beeinflussen können. Psycholog:innen, die glauben, dass Erfahrungen unsere Wahrnehmung beeinflussen, sind Vertreter der sogenannten empiristischen Position. Sie gehen davon aus, dass Reize immer so eingeordnet werden, dass sie beim (Über)Leben helfen. Da sich die alltäglichen Herausforderungen in verschiedenen Kulturen und Umgebungen unterscheiden können, muss das Gehirn bestimmte Reize in einigen Kulturen ganz anders verarbeiten als in anderen – für Menschen, die in einer Wüste leben, sind schließlich andere Reize überlebenswichtig als für Menschen in einer Großstadt.

Die Müller-Lyer-Täuschung

Ein bekanntes Beispiel dafür ist die folgende optische Täuschung:

Helfrich, Hede (2019), Kulturvergleichende Psychologie, Springer-Verlag, 2. Auflage, S. 77; Foto bearbeitet von Sophia Kober

Die beiden waagerechten Linien sind eigentlich gleich lang, werden aber von den meisten Menschen, die in einem westlich geprägtem Umfeld aufgewachsen sind, als unterschiedlich lang wahrgenommen. Wir lassen uns von den Pfeilen am Ende täuschen, aber warum ist das so? Unser Wahrnehmungssystem ist nicht für zweidimensionale Linien auf dem Papier optimiert, da wir im Alltag eigentlich reale, räumliche Strukturen interpretieren müssen. Dabei sind wir an eine Umgebung gewöhnt, in der viele rechte Winkel an dreidimensionalen Objekten auftreten, zum Beispiel an Häusern. Aus solchen rechten Winkeln bestehen auch die Pfeilspitzen in der optischen Täuschung, sodass unser Gehirn versucht, sie dreidimensional zu interpretieren – zum Beispiel als Teil einer Hauswand. Die Linie, an der die Pfeilspitzen nach außen deuten (Linie A), wäre in diesem Fall die vordere, uns nähere Hauswand. Die andere Linie (Linie B) würde in einem dreidimensionalen Haus die hintere Wand darstellen. Und hier kommt die Verzerrung unseres Gehirns ins Spiel: Es erkennt zwar im ersten Schritt, dass auf dem Papier, also in 2D, die Länge der beiden Linien übereinstimmt. Da es in der dreidimensionalen Interpretation aber Linie B als „weiter entfernt„ deutet, kommt es zum Schluss, dass sie im dreidimensionalen Raum länger sein müsste als Linie A.

Menschen, die in der Savanne oder im Regenwald aufwuchsen und daher weniger Erfahrung mit rechten Winkeln hatten, sind deutlich weniger anfällig für diese optische Täuschung. Denn nur in einer Umwelt mit vielen rechten Winkeln ist diese „Korrektur„ des Gehirns sinnvoll – schließlich sind, abgesehen von dieser optischen Täuschung, die meisten Zeichnungen mit rechten Winkeln tatsächlich dazu gedacht, dreidimensional interpretiert zu werden.

Sprache beeinflusst unsere Farbwahrnehmung

Ein weiterer Faktor, der unsere Wahrnehmung beeinflussen kann, ist die Sprache. Dazu wurde 1984 eine Untersuchung durchgeführt, an der US-Amerikaner sowie Angehörige eines mexikanischen indigenen Gruppe, der Tarahumara, teilnahmen. Das Besondere an ihrer Sprache ist, dass sie nur eine einzige Bezeichnung für den Blau-Grün-Bereich kennt. Durch die Untersuchung konnte gezeigt werden, dass die Probandengruppe der Tarahumara keinen wesentlichen Unterschied zwischen jeweils zwei auf dem Farbspektrum benachbarten Farbtönen des Blau-Grün-Bereichs wahrnehmen konnte. Die US-Amerikaner erkannten dagegen einen deutlicheren Unterschied, wenn sie das eine Farbplättchen als „blau“ und das andere als „grün“ beschreiben konnten. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen lassen sich mit der sogenannten Benennungsstrategie erklären: Wenn zwei Reize, wie zum Beispiel die beiden Farben Grün und Blau, für das Auge nur schwer auseinanderzuhalten sind, hilft es, wenn entsprechende Bezeichnungen existieren, die als zusätzliches Unterscheidungskriterium angewendet werden können.

Unterschiedliche Denkmodi

Nicht nur die Wahrnehmung unserer Umwelt, sondern auch kognitive Fähigkeiten wie Erinnern und Problemlösen werden von der Kultur beeinflusst. Richard Nisbett, ein US-amerikanischer Psychologe, unterscheidet mit seinen Kollegen zwischen zwei verschiedenen Denkweisen, die jeweils kulturell geprägt sind: Die analytische Denkweise ist vor allem in individualistisch orientierten Kulturen zu finden, zum Beispiel in den USA. Dort wird das Individuum möglichst unabhängig von seiner Umwelt betrachtet. Gegensätze spielen eine große Rolle und die Aufmerksamkeit richtet sich auf Objekte und deren Eigenschaften. Außerdem wird hier nach abstrakten Regeln kategorisiert, zum Beispiel: „A gehört zu B, weil sie beide Vögel sind„.

Im Gegensatz dazu gibt es die holistische Denkweise, die typisch für kollektivistische Kulturen wie in Ostasien ist. Dort wird das Individuum als Teil seiner Umwelt gesehen und der Fokus liegt auf Beziehungen und auf dem Kontext, zum Beispiel: „A gehört zu B, weil sie im gleichen Kontext auftreten, zum Beispiel eine Kuh und eine Wiese.„

Wie Kulturen unser Gedächtnis verändern

Dass sich die analytische tatsächlich von der holistischen Denkweise unterscheidet und zum Beispiel unsere Erinnerungen beeinflusst, konnten Nisbett und seine Kollegen im Jahr 2001 anhand eines Versuchs zeigen: US-amerikanische und ostasiatische Probanden betrachteten verschiedene Bilder, die Fische in einem Aquarium darstellten. Im Anschluss sollten sie in einem Erinnerungstest erkennen, welche Bilder sie bereits gesehen hatten. Bei einigen Testbildern wurde der Hintergrund verändert, aber die Probanden sahen denselben Fisch wie zuvor. Bei anderen Bildern wurde ein anderer Fisch dargestellt, aber vor dem gleichen Hintergrund wie in der ersten Untersuchungsphase. Die Ergebnisse zeigten, dass sich US-Amerikaner besser an den Fisch erinnern konnten, also den Fokus auf das Individuum legten, während sich ostasiatische Probanden besser an den Hintergrund erinnerten, also an den Kontext.

Von Wahrnehmung bis Erinnerung: Die unsichtbare Macht der Kultur

All diese Erkenntnisse zeigen, dass unsere Kultur uns mehr prägt, als uns möglicherweise bewusst ist. Sie formt die wunderbare Vielfalt unserer Welt – nicht nur in Sprache, Mode oder Kulinarik, sondern auch in unserer Wahrnehmung, unserer Denkweise und unseren Erinnerungen.


Quelle:

Helfrich, Hede (2019), Kulturvergleichende Psychologie, Springer-Verlag, 2. Auflage



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