Jedes Land ist individuell: Es hat einen eigenen Namen, eine eigene Hauptstadt, eigene Einwohner, eigene Gesetze und Regeln und eigene Zukunftsvorstellungen. Und doch, der Übergang von Land zu Land ist fließend: Kulturen, Traditionen, Sprachen oder auch simple Dinge wie das Essen sind zu einem gewissen Teil Charakteristiken, vermischen sich jedoch meist innerhalb der Länder. Und ist das nicht auch sehr schön? Ist es nicht schön, dass die Grenzen der Länder nicht auch die Grenzen unseres Interesses an der restlichen Welt sind? Natürlich müssen wir aufpassen, den Ländern nicht zu viel ihrer Individualität zu nehmen. Wenn wir es aber machen wie diese drei Menschen – wenn wir einander unterstützen und Hoffnung schenken, bis über jede Grenze hinaus und nicht anfangen, uns zu bekriegen und Selbstreflexion außen vorzulassen – dann erreichen wir ein Europa, in dem jeder Mensch ein erfüllendes Leben führen kann. 

 

Clarissa (53 Jahre, Schweiz)

Müde quäle ich mich aus dem Bett. Es ist Montag, ich muss auf die Arbeit. Voller Lustlosigkeit seufze ich so laut, dass meine Katze aus ihrem Schlaf aufschreckt. Ich ziehe meinen Morgenmantel über, da mir durch das Aufstehen auf einmal ganz kalt geworden ist. Schnell sehe ich nach der Heizung: Sie zeigt 22 Grad an. Seltsam, das ist die normale Temperatur und dennoch friere ich. Gähnend laufe ich in die Küche und mache mir meinen Kaffee. Ohne lässt sich der Tag nicht überleben. Mit etwas wacherer Miene steige ich in mein Auto und fahre zur Arbeit. Ich bin Psychotherapeutin und arbeite bei der Sterbehilfsorganisation EXIT. Dort betreue ich Menschen bei der Entscheidung, ihr Leben hinter ihnen zu lassen. Oft wurde ich bereits gefragt, ob es nicht schwer für mich sei, den Tod von Menschen sozusagen zu „unterschreiben“, ob ich mein Spiegelbild ertragen könne. Der Tod ist ein so negativ konnotiertes Wort in unserer Gesellschaft, obwohl er uns alle selbst einmal betreffen wird. Dass dies so ist, ist natürlich absolut verständlich: Durch den Tod verlieren wir alle geliebte Menschen, sie werden uns entrissen und doch sehe ich ihn nicht immer als Grausamkeit an. Oft zerstört er die Leben junger oder gesunder Menschen, aber es gibt auch jene Menschen, die so viel leiden müssen und sich ihn über alles wünschen. Diese Menschen betreue ich und diesen Menschen will ich helfen, sie begleiten und beraten. Meist sind meine Patienten so schwer krank, dass ihnen das Weiterleben als regelrechte Qual erscheint. Ich wünsche ihnen allen nur das beste und wenn dies das Sterben ist, wer wäre ich, dagegen etwas einzuwenden? Ja, ich kann mein Spiegelbild ertragen, denn ich helfe diesen Menschen, ihre Träume zu erfüllen.
Bei der Arbeit angekommen, reicht mir Lara, meine Kollegin, eine neue Patientenakte. „Ein Neuzuwachs?“, frage ich sie, da hin und wieder neue Mitglieder unserem Verein beitreten wollen. „Nein, er will kein Mitglied werden, sondern so schnell wie möglich eine Freitodbegleitung erhalten.“ „Verstehe“, sage ich und nehme die Akte entgegen. Mein Patient nennt sich Alessandro Martini, er ist 80 Jahre alt, kommt aus Italien und hat Brustkrebs im Endstadium. Unglaublich, dass er so einen langen Weg auf sich genommen hat. Ich laufe zu seinem Krankenzimmer und betrete den Raum mit einem netten Lächeln. Alessandro ist ein relativ kleiner Mann mit sehr freundlichem Gesicht. Als er mich erblickt, strahlt sein Lächeln mir entgegen und will aufstehen, um mich zu begrüßen. Mit einer Geste winke ich ab, er solle sitzenbleiben, jedoch besteht er darauf. Seine Umarmung ist warm und ich spüre, er ist ein fröhlich eingestellter Mensch, voller Leben. Sobald wir uns voneinander lösen, begrüße ich auch den jungen Mann, der ihn scheinbar hierher begleitet hat: Lukas. Er erzählt mir auf Hochdeutsch, dass Alessandro sein Großvater sei und er ihm als Dolmetscher diene, da er nur Italienisch sprechen könne. Zu zweit erklären mir die beiden daraufhin Alessandros Lage, wie viele Schmerzen er hat und dass diese enorm an seiner Freude am Leben zerren, sodass er einfach keine Zukunft mehr sieht, zumindest keine sonderlich schöne. Er liebe seine Familie sehr, doch könne er die Treffen mit ihr nicht mehr genießen und sehe immerzu die Sorge in den Augen seiner Liebsten aufblitzen. Das halte er nicht mehr aus, sagt er und sein Enkel übersetzt es mir. Ich nicke und erkläre ihm, dass wir bei einem Fall wie ihm eine Beratungs- und Bedenkzeit von 30 Tagen ansetzen müssen. Daraufhin erwidert er: „Das ist ein Wimpernschlag. Ich habe Jahre ausgehalten, 30 Tage sind gar nichts.“ Nachdem wir einen neuen Termin für die zweite Besprechung angelegt haben, verlasse ich das Zimmer und Lukas folgt mir. „Gibt es keinen schnelleren Weg? Er leidet jeden Tag mehr, ich kann das wirklich nicht mehr mitansehen.“ So gerne ich ihm etwas anderes sagen würde, es sind die Vorgaben und die haben ihre Berechtigung, da so sichergestellt wird, dass niemand aus reiner Willkür handelt. „Ich muss dich enttäuschen.“ „Wissen Sie, es ist wirklich nicht fair. Er hat immer so viel für andere Menschen getan und nun muss er so leiden. Das hat er nicht verdient.“ Traurig stimme ich ihm zu und wünsche ihm Kraft, bevor ich meinen nächsten Patienten besuche.

 

Alessandro (80 Jahre, Italien)

Noch 30 Tage, dann habe ich es geschafft. So lange zerrt der Krebs an mir und endlich sehe ich ein Licht am Ende des Tunnels, eine Erlösung. Diese nette Dame macht mir ein solches Geschenk. Die Reise hat sich gelohnt. Ich hatte ein wundervolles Leben, habe viele Fehler gemacht und aus ihnen gelernt. Ich habe geliebt, ich habe verloren und alles überstanden. Nun ist es Zeit für ein Ende. Mein Leben hat sich ausgelebt, ich muss mich verabschieden, gehen. „Komm, Nonno“, sagt Lukas, sobald er wieder das Krankenzimmer betritt. Er ist ein guter Junge. Ich sehe, dass er leidet und es schmerzt mich selbst. Ich wollte nicht, dass er mich begleitet, aber er ließ mir keine Wahl. Kraftlos versuche ich durch das Außengitter des Krankenbettes auf die Beine zu kommen, scheitere aber und plumpse zurück auf die weiche Matratze. Schneller als ich schauen kann, stützt mich Lukas und fragt besorgt nach meinem Befinden. „Ich bin doch nicht aus Zucker“, sage ich und lache laut. Im Hotelzimmer angekommen, welches Lukas extra für uns beide gebucht hat, sinke ich müde in das Bett. „Lukas. Ich glaube, ich habe dir etwas noch gar nicht gesagt.“ „Was denn, Nonno?“ „Danke. Danke, dass du hier bist. Ich bin zwar immer noch sauer, dass du so stur bist, aber es ist schön, ich bin nicht allein.“ „Oh Nonno“, sagt mein geliebtes Enkelkind und schluchzt. „Hey, Lukas. Weine nicht. Komm her.“ Ich strecke meine Hand nach ihm aus und er setzt sich neben mich auf das Hotelbett, nimmt meine Hand in seine und drückt sie. Träne für Träne läuft über seine Wange, endlich zeigt er, was er die ganze Zeit vor mir zu verbergen versuchte. „Nonno, ich will nicht, dass du gehst. Ich weiß, es ist egoistisch, du hast Schmerzen, du willst, dass es endet und ich … ich will trotzdem, dass du lebst“, sagt er mit bebender Stimme. Ich drücke seine Hand ebenfalls und richte mich vorsichtig auf. „Ich verstehe dich, Lukas. Es ist nicht leicht, einen geliebten Menschen gehen zu lassen. Wäre es andersherum, würde ich dasselbe empfinden wie du es tust. Es ist schwer, Lukas, sehr. Aber mein Leben ist nun zu Ende, irgendwann ist jedes Leben zu Ende. Mit Glück kann ich sagen, ich durfte es sehr lange genießen und das habe ich auch, jeden Augenblick. Das wünsche ich mir für dich auch, mein Kind. Lebe dein Leben so gut du kannst, koste jeden Moment aus und mach all das, was du einmal bereuen könntest.“ Nach einer kleinen Pause, in der Lukas weiterhin schluchzend meine Hand hielt und ins Leere starrte, ergänze ich: „Weißt du, damals, als ich in deinem Alter war, hatte ich eine Heidenangst vor dem Tod. Er war so endgültig, eine völlige Leere. Du weißt, ich bin gläubig und dennoch empfand ich Angst. Doch wie ich heute hier liege, empfinde ich diese Angst nicht mehr. Ich finde den Tod noch immer grausam, denn er reißt auch Menschen mit sich, deren Zeit noch nicht gekommen war. Aber ich, ich bin ihm dankbar, Lukas. Deswegen denke nicht daran, dass er mich dir nimmt: Er lässt mich endlich wieder frei atmen.“ Indessen sind seine Tränen nicht mehr aufzuhalten, sie kullern ihm in Strömen über die Wangen. Ich ziehe ihn in meine Arme und lasse ihn nicht mehr los, bis schließlich sein tiefer Schlaf die Tränen austrocknet.

 

Sofia (15 Jahre, Ukraine)

Müde und erschöpft quäle ich mich aus dem Bett. Die ganze Nacht habe ich gefroren, da aufgrund einiger Bombeneinschläge einige Heizungen ausgefallen sind. Unsere Wohnung zu Hause mussten wir verlassen. Derzeit wohnen Mama, Papa, meine Schwester Eleonora und ich bei Oma. Das ist etwas weiter westlich, aber vom Krieg bekommen wir dennoch hautnah etwas mit. Der Gedanke, dass hier, in meinem Heimatland, ein fürchterlicher Krieg wütet, der so viele Menschen auf beiden Seiten als Opfer akzeptiert, bereitet mir Gänsehaut. Damals war das Leben noch „normal“, doch diese Normalität hat uns alle schon lange verlassen, denn es hört einfach nicht auf. Ich habe nachts so oft Alpträume deswegen, habe Angst, dass meiner Familie etwas zustoßen könnte. Aber was bleibt mir anderes übrig, als zu hoffen? Zu hoffen, dass die Realität, in der ich derzeit lebe, endlich ein Ende findet und die Menschen sich ihrer Menschlichkeit wieder bewusst werden. Ich will mir einen Kaffee machen, aber er ist leer und wir haben von zu Hause keinen mitgenommen. Im Gegensatz zu früher, hänge ich heute tagtäglich vor dem Nachrichtensender, um über jede Kleinigkeit informiert zu sein. Eine Sache hat mich besonders überrascht, aber gleichzeitig auch gefreut: In den Nachrichten wurde gesagt, so viele Menschen aus anderen Ländern sind entweder selbst an die ukrainische Grenze gefahren oder haben uns über Hilfsorganisationen Kleidung oder Essen geschenkt. Viele haben sich sogar bereiterklärt, Flüchtende aufzunehmen. Das hat mich so berührt und es war wenigstens ein kleiner Trost zu wissen, dass da Menschen sind, denen die anderen Länder nicht vollkommen egal sind, da das, was dort geschieht schließlich „so weit weg“ sei. Oft war ich enttäuscht, dass wir nicht mehr Hilfe erhielten, fragte mich, ob wir der Welt egal seien, doch an diesem einen Tag, als ich mit meinem Papa an die Grenze fuhr, damit wir uns ebenfalls sogenannte „Care-Pakete“ abholen konnten, war ich überwältigt. Überwältigt, wie gut Menschen sein können. Das Paket habe ich damals auf meinem Schoß gehabt und als ich es öffnete, warme Kleidung gesehen, die mich endlich nicht mehr frieren ließ. Es war auch ein kleiner Brief darin. In äußerst wirrem Ukrainisch, vermutlich mithilfe eines nicht allzu präzisen Übersetzers, stand dort geschrieben: „Ich wünsche euch Kraft in dieser schweren Zeit, umringt von dem Zustand, der mich zutiefst trifft. Bitte gebt die Hoffnung nicht auf, sie wird euch immer bleiben, also haltet an ihr fest. Ich tue dasselbe. Alles Gute nur für euch, A.“

 

Epilog

Sanft streichelt Lukas die Hand seines Großvaters. Er liegt so ruhig und zufrieden da, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. Als würde er schlafen. Clarissa befindet sich an der Rezeption und sieht hin und wieder zu dem Raum hin, wo sich Lukas und Alessandro aufhalten. Ihre Augen sind gefüllt mit Tränen: Obwohl sie schon so viele Menschen beim Sterben betreut hat, es trifft sie dennoch immer wieder. Sie mochte den alten Mann sehr. Bei jedem Beratungsgespräch wirkte er so zufrieden und lächelte immerzu. Plötzlich geht die Tür auf und Lukas verlässt das Zimmer seines Großvaters. Er kommt auf Clarissa zugelaufen und sagt: „Ich danke Ihnen, dass Sie ihn gehen lassen haben.“ Tränen sammeln sich in seinen Augen, doch er schluckt sie hinunter. „Er war ein unglaublicher Mann“, sage ich, wissend, wie viel Gutes er für die Menschen getan hat. „Ja, das war er. Sogar am Ende seines Lebens konnte er nicht davon ablassen, zu helfen. Kurz bevor wir das letzte Beratungsgespräch mit der finalen Entscheidung hatten, sind wir auf seinen Wunsch hin, gemeinsam an die Grenze der Ukraine gefahren, um mit dort fehlenden Ressourcen zu unterstützen.“

 

Angelehnt an das Buch „Der Zopf“ von Laetitia Colombani, habe ich meine eigene kleine Geschichte verfasst, um deutlich zu machen, wie sehr die europäischen Länder miteinander verwoben sind. Jedes Land ist eine eigene Welt mit einer eigenen Kultur, häufig auch Sprache, Sitten, Traditionen und Menschen. Und doch hängen die Länder miteinander zusammen. Wie ein Netz, das sich über uns spannt und eine Verbindung zu all den fremden Menschen herstellt: zusammenhängende Welten.

 

Bildquelle: https://pixabay.com/images/id-1264062/  Eingesehnen am 17. Mai 2023

https://www.exit.ch/mitgliedschaft/haeufige-fragen/#c264  Eingesehen am 29. Mai 2023

Buch von Laetitia Colombani (sehr zu empfehlen!!!): ISBN 978-3-596-70185-8, Fischerverlag