1775 in Südfrankreich

„Hallo“, sagte er. „Guten Tag“, erwiderte ich.

Wir saßen in einem großen Raum mit hoher Decke. Alles war an diesem frühen Nachmittag im warmen Licht der Sonne getaucht. Die Verzierungen an den Ecken der Wände verliefen zur Decke hinauf wie die Ranken eines eifrigen Efeus. Stellenweise fand man zwischen den weißen Ranken kleine vergoldete Blätter. Auf meiner linken Seite befanden sich zahlreiche Fenster, die mit weiteren Ranken und Blumen verziert waren. An ihnen drapiert hingen leicht rosafarbene Vorhänge, welche die kaum erkennbare pastellgrüne Farbe der Wand ergänzten. Es war nicht viel in diesem Zimmer. Ich saß mit ihm an einem kastanienfarbenem Holztisch, welcher mit weiteren Blumen und Pflanzenmotiven verziert war. Unsere Stühle wirkten wie Äste, die aus dem Boden sprossen und sich so ineinander flochten, dass wir darauf Platz nehmen konnten. Auf der rechten Seite des Zimmers befand sich die Tür, drumherum eine Regalwand. Durch eine Holztreppe war es möglich, alle Regale zu erreichen, obgleich ihrer Höhe.

Von meinem Platz aus sah ich meine kleine Schwester. Ein Mädchen von gar 8 Jahren, dass mit ihrer Freundin, einem kleinen schwarzen Pudel und einem kleinen blauen Ball spielte. Beide trugen blaue Kleider, welche durch ihre sportlichen Bewegungen um sie herumwirbelten. Sie ähnelten eher drei bläulichen Wirbelstürmen als lebendigen Wesen. Sie hatte schon immer so viel Energie, mehr als ich jemals haben werde. Schmerzlich dachte ich an mein Bein, welches mein Spielen mit ihr verhinderte. Mein Gehstock stand angelehnt an meinem Stuhl. Trotz seiner schönen Verzierungen und metallenen Verarbeitung, würde er nie einen wahren Ausgleich geben können. Ich richtete den Blick wieder auf den Mann vor mir.

Er war in dunkler Kleidung gekleidet. Sein schwarzer Rock war schlicht gehalten und mit silbernen Mustern verziert. Darunter trug er eine tiefschwarze Weste mit silbern schimmernden Knöpfen. Er trug sein schwarzes Haar lang und wellig, sodass es wie ein pechschwarzer Wasserfall seine Schultern hinunterfloss. Er sah jung aus, wirkte aber alt, so alt wie die Welt selbst. Sein Gesicht wirkte alltäglich, als würde ich es kennen, doch konnte ich es nicht zuordnen. Ich stellte mich vor und er sagte: „Schön sie kennenzulernen, ich bin Tod.“ Ich amüsierte mich leicht, denn es war der eigenartigste Name, den ich je gehört hatte. Ich fragte ihn, ob es wie der Tod sei, was er bejahte. Wir redeten über das Wetter, als der Ball meiner Schwester in rasanter Geschwindigkeit zwischen uns durch zischte. Ich wollte mich gerade für ihr Verhalten entschuldigen, als er mich nach ihr fragte. Ich erzählte ihm von ihren Streichen, den wilden Spielereien in den Gängen unseres Hauses und davon, dass sie die Angewohnheit hatte, kleine Kröten mit ins Haus zu bringen. Wie sie immer auf ihrem Bett sprang und vor uns weglief zur Schlafenszeit. Er bewunderte ihre Lebensfreude, doch dann sagte er: „Leider wird sie mit mir gehen müssen.“ Ich erstarrte vor Schock. Schnell fragte ich, ob ich recht gehört hätte, wohin er sie brächte und warum er das täte. Ruhig sagte er: „Ich bin der Tod. Ihre Zeit ist gekommen. Ich nehme sie mit mir.“ Ich realisierte die Bedeutung dieser Worte. Auch wenn ich die Antwort schon kannte, fragte ich, ob es verhinderbar wäre. Er verneinte dies und entschuldigte sich. „Es ist unvermeidbar. Die Zeit eines jeden kommt irgendwann, und nun ist ihre gekommen.“

Ich spürte, wie ich diese Information verinnerlichte, und empfand lediglich Akzeptanz. Kurz wollte ich mich dafür rügen, dass ich nicht mehr für sie gekämpft hatte. Sie war meine geliebte kleine Schwester. Dieser kleine, energiereiche Flummi hat mir täglich den Tag erhellt. Immerhin war sie ein kerngesundes, junges Mädchen, das es nicht verdient hat, so zu sterben – nicht wie eine verwelkte Blume oder eine kranke alte Frau. Doch ich erkannte, dass ich in dieser Situation hilflos war. Was hätte ich schon gegen den Todesengel ausrichten können, um ihr weiteres Leben zu garantieren?

Ich fragte ihn, wie lange ich noch mit ihr habe. „Bis zum Tagesende“, erwiderte er. Ich bedankte mich und stand mühsam auf. Mithilfe meines Gehstocks schritt ich zu meiner Schwester und fragte sie, ob wir zusammenspielen könnten. Überglücklich umarmte sie mich und erzählte mir aufgeregt, dass sie schon Angst vor der Langeweile hatte, die nach der Abfahrt ihrer Freundin eintreten würde. Alsbald spielten wir miteinander. Im Rahmen meiner Möglichkeiten rannte ich ihr hinterher und bekam plötzlich das Gefühl, als wäre mein Bein zum ersten Mal in meinem Leben gesund. Ich rannte ihr nach, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf. Nie zuvor hatte ich mich so frei gefühlt. Währenddessen sah ich in meinem Augenwinkel seine Präsenz. Mal stand er zur Seite, saß in der Nähe oder lief entlang der Flure, während wir vorbei hechteten, wie ein geduldiger Vater mit seinen Kindern.

Als der Tag sich dem Ende neigte, brachte ich sie in ihr Zimmer und setzte sie auf das Bett. Er folgte uns und lehnte sich an den Türrahmen. Auffallend war, wie folgsam sie ihrer Abendroutine nachging. Geduldig saß sie am Ende auf ihrer Decke und schaute mich an. Plötzlich sagte sie, dass sie mich liebhat und dass ich sie nicht vergessen darf, wenn sie geht. Ich versprach ihr dies und vieles mehr, bevor sie sich in die Decke einkuschelte. Ich wartete, und als es tief in der Nacht war, ging er zu ihrem Bett und berührte sie. Eine Art Projektion ihrer selbst entschwand ihrem Körper. Nichts sagten, schaute sie mich an und lächelnd freudestrahlend, wie eh und je, während ihr Körper still in den Decken eingehüllt lag. Der Tod drehte sich zu mir um, verneigte sich, nahm ihre Hand und schritt aus dem Zimmer.

Die Geschichte ist hier auch als Audio verfügbar.

Quelle Audio: Blanket Movement 03.wav by rainial.co — https://freesound.org/s/571747/ — License: Attribution 4.0

Cane_Hitting_Pavent_Medium_Pitch_4.wav by Tdude9000 — https://freesound.org/s/138302/ — License: Attribution 3.0




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