Ein kurzes Gedankenexperiment:

Stell dir vor – du gehst durch die Straßen der Stadt, wo du wohnst. Vielleicht bist du gerade auf dem Weg zur Arbeit, zu Freund:innen, oder zur Schule. Vielleicht schlenderst du aber auch einfach nur so durch die Gegend.
Wenn du dich umschaust, siehst du Menschen, die vielfältig und bunt sind. Menschen mit Behinderung, die sich mithilfe eines tierischen Assistenten, eines Rollstuhls oder anderer Hilfsmittel durch die Stadt bewegen. Sie werden nicht von der Gesellschaft behindert und können sich frei entfalten.
Du siehst Menschen sich in Gebärdensprache unterhalten – und wenn du sie beobachtest, verstehst, du welche Geschichten ihre Hände erzählen, denn du selbst hast diese Sprache bereits in der Grundschule gelernt.

„Die Vielfalt als Normalität anzunehmen ist für die Gesellschaft im Prinzip alternativlos“

sagte die Diversitätssoziologin Elisabeth Wacker im Zukunftspodcast der Tagesschau¹.
Ist Vielfalt alternativlos? Ja! – Aber sind wir dort schon angekommen? Nein, noch lang nicht!
Wenn du heute bewusst durch die Straßen deiner Stadt gehen würdest, würdest du dieses vielfältige Bild aus dem Gedankenexperiment mit großer Wahrscheinlichkeit nicht sehen. Nicht weil es an Vielfalt mangelt – sondern weil beispielsweise Menschen mit Behinderung von unserer heutigen Gesellschaft Tag für Tag die unterschiedlichsten Hindernisse in den Weg gestellt bekommen.
In Deutschland leben laut dem Statistischen Bundesamt 7,8 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung. Das sind fast 10% der Bevölkerung².
Wenn ich meinen Alltag in Gedanken durchgehe, fallen mir erschreckend schnell unfassbar viele (für mich) „Kleinigkeiten“ auf, die für Menschen mit Behinderung bereits ein Hindernis sein könnten: Im Supermarkt die kleinen Texte und die häufige Beschallung mit Musik, keine Orientierungshilfen für Menschen mit einer Sehbehinderung und zu schmale Türen sind nur einige Beispiele. All diese großen und kleinen Hürden bedeuten fehlende Inklusion.

Inklusion? Was heißt das eigentlich?

„Also Inklusion bedeutet für mich, dass wirklich absolute Barrierefreiheit herrscht, dass die große Gesellschaft, die keine Behinderung hat ein Gefühl kriegt für Menschen mit Behinderung, dass sie sich in die Lage herein versetzen können und, dass dann auch der Alltag für Menschen mit Behinderung so gestaltet ist, dass sie überall barrierefrei teilhaben können.“ erklärt Tim Eidam, er studiert im Master das Fach Sonderpädagogik Fachrichtung Hören und engagiert sich bei der Gruppe „Deafies Heidelberg“ – eine Gruppe für Menschen mit Hörbehinderung.

„Vom heutigen Standard gibt es noch sehr viel nachzuholen.“

sagt Tim zum Thema Barrierefreiheit. „Absolute Barrierefreiheit wird es wohl nie geben und immer Wunschgedanke bleiben, leider.“
Tatsächlich ist eine absolute Barrierefreiheit sehr unwahrscheinlich. Verschiedene Bedürfnisse widersprechen sich gegenseitig. Ein Idealzustand für alle ist aus unserer heutigen Sicht eine Utopie. Doch sich Stück für Stück an das Ideal einer barrierefreien Gesellschaft anzunähern ist ein wichtiger und unersetzbarer Prozess.
Ein bereits bekannterer Bereich der Barrierefreiheit ist das barrierefreie Bauen.
Damit sich ein Gebäude barrierefrei nennen kann, muss es nach der Musterbauordnung (MBO) von allen Nutzer:innen uneingeschränkt benutzbar sein (Quelle 3).

In so einem Gebäude findet die youcoN 2022 statt. Eine Jugendkonferenz, die sich jährlich mit Bildung für nachhaltige Entwicklung (kurz BNE) beschäftigt. Dieses Jahr findet die Veranstaltung nicht nur in einer barrierefreien Jugendherberge statt, sondern beschäftigt sich auch spezifisch mit diskriminierungsfreierer und fairer Bildung.
Vorab von den Veranstaltenden groß angekündigt sind Dolmetscher:innen für Gebärdensprache – Wer Unterstützung braucht kann das bereits in der Anmeldung angeben. So scheint die youcoN einen inklusiven Anspruch an sich selbst zu haben.
Auf Nachfrage bei der youcoN erzählt Jess, Referentin für BNE und Jugendbeteiligung: „Wir versuchen immer so gut wie wir können und so gut wir es von finanziellen Mitteln und organisatorischen Möglichkeiten können, das Ganze so inklusiv wie möglich zu gestalten.“ Die youcoN probiere Barrieren abzubauen, wo es nur geht. Ein Beispiel dafür sei der diesjährige Fokus auf rassismuskritische Themen, der auch in einem diversen Betreuer:innen-Team und in weiteren Strukturen mitgedacht werden würde.
Auf die Frage, ob sie das auch umsetzen konnten, meint Jess kritisch: „Wir merken, dass wir jedes Jahr besser werden darin, aber wir sind noch lange nicht da wo wir hinwollen“

Das fällt auch in einer Situation besonders auf:
Während der Eröffnung der youcoN gab es zwei Gebärdensprachen Dolmetscher:innen, die das Programm übersetzt haben. Noch während der Begrüßung sind diese gegangen. Statt inklusiv, wirkt das auf viele eher medienwirksam: Als würde Inklusion nur dann stattfinden, wenn Kameras auf die Bühne gerichtet sind.
Jess erklärt dazu einen ganz anderen Blickwinkel: „Wir haben uns da auch beraten lassen, wie man inklusiver werden kann und meistens ist es dann so, dass erst die Strukturen da sein müssen, bis es in den Communities ankommt, dass das eine Veranstaltung ist, die in Frage kommt.“
Bei diesen zwei Perspektiven stellt sich die Frage, ob eine transparente Kommunikation der Situation nicht besser gewesen wäre, um diese Wirkung zu vermeiden: „Es gibt sehr viele Dinge, die wir versuchen gleichzeitig gut zu machen und da ist wahrscheinlich immer noch Wachstumspotenzial.“
Wenn Jess sich eine Sache für eine inklusivere youcoN wünschen könnte, wäre das ein einfacherer Zugang zu den Communities: „Dass wir es schaffen die Menschen, für die wir Strukturen schaffen, auch zu erreichen. Wir sind thematisch immer in einer Bubble – wir sind aber auch bei anderen Themen in unseren Filterblasen drin, aber dieser Schritt da raus zu kommen, der ist manchmal richtig schwer.“ Das Team der youcoN würde sich jetzt daran setzen zu reflektieren und Strukturen zu verbessern um die youcoN im nächsten Jahr noch inklusiver zu gestalten.

Tim hat auf der youcoN auch einen Workshop zu Gebärdensprache gehalten. Dort lernten die Teilnehmenden Basics im Fingeralphabet und erste andere Gebärden. Auf die Frage, ob Gebärdensprache ein Pflichtfach in der Schule sein sollte erklärt er: „Ich finde es ist wichtig zu unterscheiden zwischen Wahlpflichtprogramm und, dass man das wählen kann. Weil ich finde man kann nicht erwarten von der hörenden Gesellschaft, dass sie Gebärdensprache lernen muss“ Er erzählt weiter, dass er sich vorstellen kann, dass besonders in der Grundschule viel Neugier für Gebärdensprache als eine Art Geheimsprache existieren könnte.

Also, wie könnten wir eine inklusivere Welt gestalten?
Inklusion und Barrierefreiheit sind große und komplexe Themen, die im gesellschaftlichen Diskurs bisher zu wenig im Fokus lagen. Denn es gibt eigentlich keine Menschen mit Behinderung, sondern Menschen, die von der Gesellschaft behindert werden. Es ist Zeit anzuerkennen und sich bewusst zu machen, wie bunt und vielfältig unsere Gesellschaft ist. Aber dazu ist es auch nötig zu handeln und Schritt für Schritt Hürden abzubauen. Der erste Schritt kann schon sein sich überhaupt einmal aktiv mit diesen Themen auseinander zu setzen und mit offeneren Augen durch die Welt zu gehen.

Von der Gesellschaft würde sich Tim zum Thema Inklusion eine größere Dringlichkeit und Selbstverständlichkeit wünschen:  Deutschland hinke noch sehr weit hinterher. Durchgehende Untertitel im Fernsehen und Dolmetschen bei allen Nachrichten wären nur erste Schritte.

Persönliche Notiz: Ich bin selbst ein Mensch ohne Behinderung. Das Thema interessiert mich schon länger und dieser Artikel soll ein erster Schritt dahin sein sich mit dem Thema Inklusion in unserer Gesellschaft näher auseinander zu setzen. Ich habe probiert diskriminierungsfreie Sprache zu nutzen und hoffe, dass dies gelungen ist.

Quellen:
1: Zukunfts-Podcast der tagesschau – Deutschland barrierefrei? Was dann?
2: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html
3: https://www.bfb-barrierefrei-bauen.de/kategorie/konzept-planung/oeffentliche-gebaeude/#:~:text=Nach%20der%20Musterbauordnung%20(MBO)%20m%C3%BCssen,Hilfe%20zug%C3%A4nglich%20und%20nutzbar%E2%80%9C%20sein.