Spotlight: Querdenker
Samstagmorgen gegen 10:00 Uhr. Pfingsten 2021 steht vor der Tür und eine weitere „Querdenker“-Demonstration. Nicht mein erste „Großveranstaltung“ in Corona Zeiten. „Pfingsten in Berlin“, der Name der Veranstaltung wurde vom Versammlungsgericht Berlin verboten, dennoch war zu erwarten, dass viele „Querdenker“ sich mobilisieren würden. Ich selbst, habe die Vorfreude der „Impfgegner“, „Verschwörungstheoretiker“ oder „Staatsskeptiker“ in den speziell dafür eröffneten Telegramgruppen beobachtet, die mit ca. 4000 Mitgliedern ganz gut gefüllt waren. Die lang ersehnte Revolution sollte stattfinden.
Am Brandenburger Tor in Berlin ging es los. Nach einer Weile bei Regen unter Bäumen, strömte der untersagte Demozug plötzlich unkontrolliert Richtung Potsdamer Platz. Die Polizei schaffte es zwar den teils aggressiven Mob in eine Seitenstraße zu drängen, wo es aber zu Auseinandersetzungen kam. „Demostranten:innen versuchten eine polizeiliche Absperrung zu durchbrechen“ wie der Polizeisprecher später mitteilte. Nach nur wenigen Stunden im gebildeten „Polizeikessel“ wurde die Stimmung der „Querdenker“ zunehmend schlechter. Die Polizei entfernte immer mehr „Stimmungsmacher“, wie Musiker aus dem „Kessel“, um die Personalien aufzunehmen. Als sich ein weiterer Demozug aus neuen Leuten gebildet hatte, und weitere „Querdenker“ quer durch die Stadt zogen, begann ein Katz-und-Maus-Spiel. Die Katz alias Polizei war aber erstmal nicht zu sehen.
Jetzt haben sie sicher den Begriff Querdenken in den letzten anderthalb Jahren oft gehört und viele wissen mittlerweile, was man unter dem Begriff versteht. Für diejenigen die nicht wissen was Querdenker sind, hier eine kurze Erklärung: Der eigentliche Begriff, der schon lange Verwendung findet, bedeutet, dass sogenannte Querdenker, unkonventionell denken und auf Lösungen kommen, die niemand sonst auf dem Schirm hatte. Im Jahr 1967 wurde der Begriff eingeführt und seither benutzt. In jüngerer Zeit haben die Wörter Querdenker und Querdenken aufgrund des Verhaltens bei Demonstrationen gegen die COVID-19-Maßnahmen leider eine zusätzliche negative Bedeutung erhalten.
Den aktuellen Querdenkern geht es vor allem darum, die auf wissenschaftlicher Basis zum Coronavirus getroffen Maßnahmen der Politik zu kritisieren und abzulehnen. So ziehen auf Protesten viele Teilnehmer keine Maske auf oder haben Atteste, die sie von den Pflichten befreien. Teilweise sind diese aber von Ärzten ausgestellt worden, die selbst die Querdenker-Szene befürworten.
An dieser Querdenkerbewegung wird vor allem kritisiert, dass sie eine „relative Neigung zum Antisemitismus“ hat, was eine Basler Studie in einer Umfrage festgestellt hat. Bei den Querdenkern handele es sich um eine Bewegung, „die eher von links kommt, aber stärker nach rechts geht“. Zwar könne man die Querdenker nicht unbedingt einer rechten Bewegung zuordnen, allerdings handele es sich „klar um eine Bewegung, die nach rechts offen ist und über ein beträchtliches immanentes Radikalisierungspotenzial verfügt“. Viele halten die AfD für eine normale Partei und haben nichts dagegen, wenn diese parallel augenscheinlich Wahlkampf auf ihren Demonstrationen betreibt. Außerdem wird die Reichskriegsflagge auf den Protesten von einem Großteil als nicht störend hingenommen.
Ausschreitungen wie bei der zu Beginn erwähnten verbotenen Demonstration an Pfingsten sind bei den Verschwörungstheoretikern nichts Ungewöhnliches mehr. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Kundgebungsteilnehmern und der Polizei, da sie unteranderem die Abstände nicht einhalten. Trotz solcher Maßnahmen hat man in letzter Zeit vor allem beobachtet, dass gegenüber linken Demonstrationen, die Polizei offenbar nicht mit der gleichen Härte durchgreift. Dies könnte sich damit erklären, das viele Querdenker:innen in einem vergleichsweise hohem Alter sind und so die körperlichen Übergriffe der Polizei nicht so standhalten würden, wie bspw. junge Demonstranten. Die Hemmschwelle der Polizei ist möglicherweise geringer, einem jungen Demonstranten einen Tritt zu verpassen. Zudem sind häufig auch Kinder bei den Querdenker-Demonstration, weshalb das Pfefferspray oft am Gürtel bleibt.
Als Pressevertreter wird man von Querdenkern des Öfteren angepöbelt und teilweise auch handgreiflich angegriffen. Die Polizei wirkt überfordert, wenn es darum geht Journalisten zu schützen. Man wird sogar ignoriert, wenn man Beamten einen Übergriff melden möchte. So sinkt die Sicherheit für Journalisten erheblich- ein Grund weshalb „Reporter ohne Grenzen“ Deutschland nur noch als „zufriedenstellend“ auf ihrer Liste der Pressefreiheit einstuft. Die Übergriffe ereignen sich vor allem am Rand von Corona-Protesten und haben sich verfünffacht im Vergleich zu 2019. Der Begriff „Lügenpresse“ ist zu einem neuen politischen Kampfbegriff geworden und wird teilweise von Corona-Demonstranten, aber vor allem von Reichsbürger häufig im Chor angestimmt. Was zu Verwirrung führt ist, dass Rechtsextremisten und Reichsbürger auf den Demonstrationen Schulter an Schulter laufen und anscheinend akzeptiert werden, auch wenn sich einige der Querdenker:innen der „Freien Linken“ zuordnen.
Für Außenstehende es ist nicht leicht Querdenker zu beurteilen, denn es gibt viele Widersprüche. Als ich einen Freund dazu befragte, meinte dieser „das jeder zwar das Recht hat, seine Meinung in der Öffentlichkeit zu zeigen, aber die Äußerungen oder Veröffentlichung in der Gesellschaft sollten sich respektvoll und in Grenzen halten“.
Ich selbst habe eine ähnliche Ansicht und kann nur bestätigen, wie beispielsweise in „Querdenken“-Gruppen schonungslos gegen Juden gehetzt wird, weshalb unteranderem auch der Telegramkanal von Verschwörer Atilla Hildmann auf iPhones und Android-Apps gesperrt wurde. Wer dafür genau verantwortlich ist, muss noch geklärt werden. Die Inhalte des Kanals wurden nicht gelöscht und sind weiterhin über andere Wege erreichbar.
Zudem finde ich es verantwortungslos und beschämend, wenn ich sehe, wie Querdenker sich verhalten. Es gibt Länder, wo es kaum Krankenhäuser gibt, Krieg herrscht und Menschen hungern müssen. Unterdessen regen sich in Deutschland meist privilegierte Bürger darüber auf, dass sie Corona Maßnahmen einhalten müssen und wehren sich mit Händen und Füssen gegen das Impfen.
“ Während das Coronavirus in ärmersen Ländern wütet und neue Mutationen drohen, diskutiert Deutschland darüber, Impfskeptiker mit Geld zu locken. Das ist nicht nur lächerlich, sondern auch empörend.“, klagt auch Markus Becker im Spiegel 31/2021 an.
Klar, ich selbst befürworte auch nicht jede Entscheidung der Regierung, aber ich gefährde im Gegensatz mit meiner Meinung keine Menschenleben oder hetzte im Internet über bestimmte ethnische Gruppen. Dazu tauchte letztens ein Video auf, wo der Anwalt Marcus Haintz und der „Arzt für Aufklärung“ Heiko Schöning, zwei deutsche „Querdenker“, am Flughafen Palmas eine Pressekonferenz der spanischen Regierung stören und dann von der dortigen Polizei abgeführt werden.
Zurzeit flaut die Querdenkerszene etwas ab, was an der niedrigen Inzidenz liegen könnte, oder einfach am Sommer. Anfang August ist wieder eine Großdemo in Berlin geplant und mit dem derzeitigen Vormarsch der Deltavariante könnte die Bewegung der Querdenker wieder an Fahrt aufnehmen.
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