Masuren im Nordosten Polens: sanfte Hügel, klare Seen – und stille Friedhöfe, auf denen Soldaten aus zwei Weltkriegen ruhen. Das Gebiet, das früher Ostpreußen hieß, ist heute bei vielen Deutschen in Vergessenheit geraten. Hier, fernab großer Städte, treffen sich Freiwillige aus verschiedenen Ländern, um Gräber zu pflegen, Namen zu rekonstruieren und Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren. Organisiert werden diese Begegnungen vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., einer Organisation, die seit über 100 Jahren im Auftrag der Erinnerung tätig ist.
Jugendliche ab 16 Jahren haben mit dem Volksbund die Möglichkeit, an einer Reise der besonderen Art teilzunehmen. Die Projekte – vor allem die Workcamps – sollen internationale Jugendbegegnungen ermöglichen, eingebettet in ein historisches Rahmenthema und den Auftrag, den Frieden in Europa zu bewahren. Der Volksbund ist ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und arbeitet mit zahlreichen Partnerorganisationen zusammen, im Falle des Workcamps Masuren etwa mit dem polnisch-deutschen Jugendwerk.
Bevor es losgeht, gibt es für alle Teilnehmenden einen digitalen Vorbereitungstermin: In einem Zoom-Call erfahren sie die wichtigsten Informationen und lernen schon einmal die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland kennen. Die polnischen Teilnehmer und Teilnehmerinnen lernt man dann erst vor Ort kennen.
Die Workcamps dauern in der Regel ein bis drei Wochen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer – Jugendliche und junge Erwachsene – arbeiten gemeinsam an Soldatenfriedhöfen. Sie reinigen Grabsteine, setzen Inschriften instand, dokumentieren Gräber und nehmen an Workshops teil, die durch den Volksbund organisiert wurden. In den Workshops erfährt man noch mehr zum Hintergrund der historischen Ereignisse der Region, aber auch zur Aufarbeitung der Geschehnisse in beiden Ländern.
In Masuren bedeutete das in diesem Sommer: Unkraut entfernen, Grabsteine reinigen und die Inschriften mithilfe von Alkohol, Edding und Werkzeugen wieder lesbar gestalten. Dabei wird schnell klar, dass es nicht nur um handwerkliche Arbeit geht – sondern um eine Form von aktiver Erinnerungskultur. Manche Friedhöfe sind sehr gut erhalten und man erledigt nur „Schönheitsreparaturen“, andere sind in einem sehr heruntergekommenen Zustand, aber der Volksbund erhält nicht für jeden Friedhof eine Genehmigung zur Denkmalpflege.
Das Workcamp in Masuren war zweisprachig im besten Sinne: Etwa die Hälfte der Teilnehmenden kam aus Deutschland, die andere aus Polen – gesprochen wurde Englisch. Abends wurde gemeinsam am Lagerfeuer gegessen, es gab Ausflüge zu Gedenkstätten, Museen und historischen Orten. Besonders eindrücklich war der Besuch eines kleinen Dorfmuseums, in dem ein altes, masurisches Dorf nachgebaut war.
Für die deutschen Teilnehmenden dürfte es zum Beispiel kaum bekannt gewesen sein, dass es sogar eine eigene, masurische Sprache gab, die heute als fast ausgestorben gilt und nicht als eigenständige, slawische Sprache anerkannt ist. Ebenso ist die Kultur der Masuren in Deutschland wenig bekannt, die historischen Ereignisse der Region, wie die Tannenbergschlacht, natürlich schon.
Diese Gespräche und das Miteinander schaffen Raum, Geschichte nicht nur als Datensammlung zu sehen, sondern als gelebte Erfahrung, die mit vielen Fragen verbunden bleibt: Wer liegt hier begraben? Was bedeutete der Krieg für die Menschen vor Ort? Welche Verantwortung tragen wir heute?
Für den Volksbund ist die Arbeit doppelt wichtig: Zum einen pflegt er im Auftrag der Bundesregierung mehr als 830 Kriegsgräberstätten in 46 Ländern. Zum anderen sieht er die Camps als Bildungsarbeit im besten Sinne – Begegnung, Geschichtsvermittlung und Friedenserziehung zugleich. Auf Nachfrage erklärte man, dass die Arbeit der Freiwilligen auch die Aufmerksamkeit der Anwohner auf sich gezogen hat, sodass diese selbst mehr Interesse an den Weltkriegsgräbern haben und dort Pflege und Restauration betreiben. Auch deshalb seien manche Friedhöfe mittlerweile wieder in einem sehr guten Zustand, obwohl sie viele Jahrzehnte fast vergessen im Wald lagen.
In Masuren fiel auf, wie eng Vergangenheit und Gegenwart verwoben sind. Viele Friedhöfe beherbergen Opfer beider Weltkriege – Deutsche, Polen, Russen, Litauer. Die Inschriften spiegeln den Verlauf der Fronten und die wechselnden Herrschaften in der Region. Die Inschriften auf den Gräbern der russischen (und deutschen) Soldaten waren auf Deutsch, die Hinweistafeln auf dem Friedhof aber nur auf polnisch. Mit Bedauern bemerkten wir, dass einige der russischen Soldaten schon starben, als der Frieden von Brest-Litowsk schon geschlossen war, sie starben an ihren Verletzungen im dortigen Krankenhaus oder Spital, obwohl der Krieg schon vorbei war.
Ein Workcamp ist kein Urlaub, sondern eine bewusste Entscheidung, Zeit und Kraft in die Pflege von Orten zu investieren, die ohne Engagement oft in Vergessenheit geraten würden. Wer an einem solchen Camp teilnimmt, sollte ein großes Interesse an Geschichte und interkulturellem Austausch mitbringen, nimmt aber mehr Wissen nach Hause, als man es aus Büchern oder der Schule lernen kann.
Am Ende des Camps waren unsere Bemühungen auf dem Friedhof von Erfolg gekrönt: die Grabsteine waren wieder leserlich, die Gräber gereinigt und mit einem Lied über den Frieden in beiden Sprachen verabschiedeten wir uns von diesem geschichtsträchtigen Ort.