Es war Frühling 2011. Fleißiger und gestresster als sonst versuchte ich für meinen Mathetest zu üben. Eigentlich war ich sehr gut in der Schule, aber in diesem Schuljahr war plötzlich alles anders. Mit einem mulmigen Gefühl betrat ich den Klassenraum, wenn eine Klassenarbeit anstand. Ganz schnell vergaß ich vieles, was ich die letzten Tage mit Mama und Papa geübt habe. Plötzlich wurde die Schule zum Auslöser starker Angst. Heute weiß ich: Es war Prüfungsangst. Warum? Weil es das wichtigste Schuljahr der Grundschule war: Die vierte Klasse. Mein Ziel war das Gymnasium. Heute als 24 Jahre alte Frau weiß ich, dass ich dieses Ziel nicht erreicht habe. Zumindest nicht im Jahr 2011. Mit einem Schnitt von 2,66 erhielt ich eine Empfehlung für die Realschule. Es war eine Niederlage für mein zehnjähriges Ich. Im Laufe der nächsten Jahre unterhielt ich mich mit einigen Freunden, die einen ähnlichen Druck verspürten. Es stellt sich die Frage: Ist in Deutschland der Übertritt auf die weiterführende Schule zu früh angesetzt?
Tatsächlich ist die Anzahl der Grundschuljahre innerhalb Bundesrepublik nicht einheitlich. Berlin ist eines der wenigen Bundesländer, in dem die Grundschule die Klassen 1 bis 5 umfasst. Trotzdem ist bei sehr guter Leistung des Kindes möglich, bereits nach der 4. Jahrgangsstufe auf ein Gymnasium zu wechseln, sofern noch Plätze verfügbar sind. Es scheint eine gute Lösung zu sein den Eltern und Kindern einen gewissen Entscheidungsspielraum zu geben. Machen die Berliner es wohl richtig?
Der amerikanische Entwicklungspsychologe Havighurst würde auf Basis seiner Theorie vermutlich zustimmen. Er sah das menschliche Leben als Zusammenschluss aus verschiedenen Entwicklungsphasen, die jeweilige Entwicklungsaufgaben beinhalten. Die Lebensphase der späten Kindheit erfolgt zwischen mit sechsten und elften Lebensjahr. Das Kind entwickelt kognitive Konzepte, baut Wertprioritäten und erlernt in der Regel durch die Grundschule grundlegende Fähigkeiten. Dazu gehört das Lesen, Schreiben und Rechnen. Eine der interessanteste Entwicklungsaufgaben bezüglich der Thematik ist das Umgehen mit dem sozialen Konstrukt namens “Schule”. Alle Grundschüler befinden sich in ihrer späten Kindheit und festigen weiterhin ihre kognitiven Fähigkeiten. Daraus resultierend wirkt es nicht sinnvoll, den Übertritt auf die weiterführende Schule durchzuführen, bevor all diese Entwicklungsaufgaben dieser Phase erfüllt wurden. Ab dem 12. Lebensjahr beginnt das frühe Jugendalter, in dem eine psychische und soziale Identität entwickelt wird und die schulische Leistung sich festigt und sogar stärkt. Alle in dieser Lebensphase erlernten Kompetenzen werden gefestigt. Ein Transfer auf eine weiterführende Schule nach der sechsten Jahrgangsstufe würde dies gewähren.
Der Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung an der Universität Würzburg veröffentlichte im Jahr 2014 einen Abschlussbericht in dem 1.620 Eltern aus den Bundesländern Hessen und Bayern zu der Stressbelastung bezüglich des Übertritts auf die Sekundärschule ihrer Kinder befragt wurden. Primär wurden die Ergebnisse der jeweiligen Länder miteinander verglichen. Das Gesamtbild der Forschungsergebnisse ist jedoch sehr aussagekräftig. Etwa die Hälfte der befragten Elternteile aus Bayern berichtet von einem hohen Stressfaktor ihrer Kinder. In Hessen hingegen handelt es sich um ca. 28% der Befragten, um genau zu sein ist jedes vierte Kind der Stressbelastung während der Übertrittsphase ausgesetzt.
Ein möglicher Indikator könnte das Übertrittsverfahren Bayerns darstellen. Die Empfehlung ist absolut abhängig von der schulischen Leistung der Viertklässler. In Betracht werden die Fächer Mathe, Heimat- und Sachkunde und Deutsch gezogen. Daraus ergibt sich ein Notendurchschnitt, der die zukünftigen Jahre der Kinder bestimmen wird. Ein Notendurchschnitt unter 2,66 resultiert in eine Empfehlung für die Mittelschule. Eine Durchschnittsnote zwischen 2,33 und einschließlich 2,66 würde eine Realschulempfehlung hervorrufen. Wenn das Kind eine bessere Durchschnittsnote als 2,33 erzielt hat, ist eine Empfehlung für das Gymnasium zu vergeben. In Hessen hingegen basiert die Empfehlung für die Sekundarschule zwar ebenfalls auf den Leistungsstand des Kindes, aber auch auf die Lernentwicklung und die Arbeitshaltung. Eine schriftliche Bildungsempfehlung wird an die Eltern weitergegeben, jedoch könnten sie sich gegen die Empfehlung entscheiden und ihr Kind trotzdem in die weiterführende Schule ihrer Wahl einschreiben. Letztendlich ist die pädagogische Empfehlung nicht bindend und stellt keine “Hürde” dar. Ludwig Spaenle, ehemaliger bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus, verteidigte das Verfahren Bayerns und bezeichnete es als “sozial gerechteste Form der Entscheidung”.
Als sozial gerechteste Form der Entscheidung würden einige Lehrkräfte, Eltern und damalige Grundschüler den Übertritt nicht bezeichnen. Um eine Form von Chancengerechtigkeit und sinnvollem begleiten auf den Bildungsweg ist eine angemessene Vorbereitung essenziell. Aus entwicklungspsychologischer Sicht sind die grundlegenden Kompetenzen vieler Kinder noch nicht genügend gefestigt, um diese als alleinigen Indikator für die wichtigste Schulentscheidung ihrer Laufbahn zu nutzen. Ein guter Kompromiss ist die Vorgehensweise des Bundeslandes Hessens. Eine Empfehlung der zuständigen Pädagogen ist nicht mehr als eine Empfehlung. Sie stellt keinen verpflichtenden Wegweiser für die Eltern und natürlich der Kinder da. Das reine Betrachten der akademischen Ergebnisse reflektiert nicht in allen Fällen die tatsächliche Kompetenz.
Vielleicht ist es an der Zeit, das System an die Kinder anzupassen und nicht umgekehrt.
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