„Du hast nicht überzeugt. Mit deinem miesen Zeugnis hast du nie das Zeug für ganz viel Erfolg.“ Wer solche Sätze als Jugendliche:r zu hören bekommt, vergisst sie meist sein Leben lang nicht. Die Berliner Rapperin Judith Wessendorf, genannt Juju, zitiert diese Aussage im Song „Schule“, einer polemischen Abrechnung mit der eigenen Schulzeit. Ihre teils harsche Wortwahl lässt die Wut auf die Institution Schule deutlich erkennen. Wessendorf beklagt die ständige Kritik ihrer Lehrkräfte, die ihr wegen schlechter Noten eine düstere Zukunft voraussagten. Dabei hatte sie laut eigener Angabe schon immer den Traum, als Musikerin Karriere zu machen, was ihr schließlich auch gelang. Auch Nika Filipczak (19) und Aylin Gümüs (20) blicken nicht gerne auf ihre Schulzeit zurück. Die Referentinnen des Bildungswerks für Schülervertretungen, kurz SVB, leiten einen Workshop mit dem Titel „Bildungssystem der Träume“ auf der Jugendkonferenz „youcoN“ in Mannheim. Sie wollen also verändern, was sie selbst belastet hat – für Filipczak vor allem der fehlende Wert der individuellen Entwicklung und die großen Hierarchien, für Gümüs die kaum mögliche Teilhabe und der unzureichende Umgang mit dem Thema Mobbing. Deshalb sitzen sie an einem Samstagvormittag im Juli mit etwa 20 Teilnehmenden auf den Rheinwiesen in Mannheim nahe der Jugendherberge.
Erste Aufgabe: Problemanalyse. In Gruppenarbeit werden die Defizite des Schulsystems auf großen Flipchart-Blättern notiert. Die mangelnde Individualität ist auch hier einer der größten Kritikpunkte. Die Teilnehmenden stimmen überein, dass der vorgegebene Bildungsweg die eigenen Stärken und Interessen zu wenig berücksichtige und dass die gezielte Förderung Einzelner kaum stattfinde, weil Personal fehle und die Arbeitsbelastung vieler Lehrkräfte schon jetzt sehr hoch sei.
Uneinigkeit herrscht über die Frage, ob weiter Noten vergeben sollen. Elena Gelmert (19), Stipendiatin der Start-Stiftung, fordert ein Ende der Benotung gestalterischer Aufgaben, bei denen die eigene Kreativität im Vordergrund stehen solle. Claas Lamaack (21) hebt zwar die Wichtigkeit von Lernstandserhebungen hervor, die für Vergleichbarkeit sorgten und zu mehr Leistung motivieren könnten. Er schlägt jedoch ein alternatives Modell vor: Schüler sollten in Modulen und eigenen Projekten neue Fähigkeiten erwerben und „Erfahrungspunkte“ sammeln, die sie in ein höheres Level aufsteigen ließen. Er findet also, dass sich der Unterricht an den zu erwerbenden Kompetenzen orientieren sollte, wie es in einigen Lehrplänen bereits heute Ziel ist. Lamaack betont, dass die Schüler:innen ein realistisches Selbstbild entwickeln müssen, um auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich sein zu können. Das Selbstbewusstsein und die mentale Gesundheit würden jedoch durch zu großen Leistungsdruck beeinträchtigt. Die Schulen sollten auch einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten, indem sie zu gesellschaftlichem Engagement motivierten. Viele Teilnehmenden geben an, dass dies an ihrer Schule nicht der Fall war.
Von ganz anderen Erfahrungen berichtet jedoch die 15-jährige Leni Paassen, bis zu ihrem Umzug Schülerin eines als „Klimaschule“ ausgezeichneten Hamburger Gymnasiums. Durch einen Aktionsplan verpflichtet sich die Schule zu ökologischem Einsatz. So gibt es etwa einen „Klimakurs“ für die 10. Klassen, dessen Inhalte die Schüler dann in Workshops an die Unterstufe weitergeben. Auch die Teilnahme an Fridays for Future-Demonstrationen sei problemlos möglich gewesen, sogar Klassenarbeiten würden dafür verlegt.
Der 19-jährige Gwan, Schüler der 13. Klasse einer Gesamtschule in NRW, wünscht sich eine vollständige Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems. Er kritisiert, dass der Bildungsweg durch die Wahl einer Schulart zu eindeutig vorgegeben sei. Wenn die Leistungen in der Pubertät oder durch familiäre Umstände, etwa eine Trennung der Eltern, einbrächen und man die Schule wechseln müsse, sei ein Aufstieg kaum mehr möglich, außerdem verlasse man die bekannte Klassengemeinschaft, die auf einer Gesamtschule über Jahre hinweg bestehen bleibe.
Zum Schluss wird über die eingereichten Forderungen per Positionierung auf der Wiese abgestimmt. Der Vorschlag „Glück als Unterrichtsfach“ erhält kaum Zustimmung, der Wunsch nach „Lernen zur eigenen Zeit an jedem Ort“ dagegen schon. Auf die Frage nach ihrer persönlichen Utopie antwortet Pheline (20), Soziologiestudentin aus Kirchheim unter Teck: „Ich sehe Schüler:innen begeistert, neugierig und erfüllt von der Schule heimkommen. Vielleicht ein bisschen müde von den neuen Ideen und Erkenntnissen, aber nicht ‘schulmüde’“. Im „Bildungssystem der Träume“ sollte also niemand seine Schulzeit so schlecht in Erinnerung behalten müssen wie die Rapperin Juju. Die Teilnehmenden, von denen viele die Schule gerade erst abgeschlossen haben und von dort vor allem ein Gefühl der Frustration mitbringen, zeigen: Es bleibt noch viel zu tun.