„Wenn die Welt blind wäre, wie viele Menschen würdest du beeindrucken?“

Dieser Spruch mag klingen wie aus einem Kalender, den man so oft liest, bis er einem auf die Nerven geht, aber er beeindruckt mich immer wieder aufs Neue. Denn er spricht uns eine für uns unfassbar wertvolle Eigenschaft ab: unser Aussehen. Wir streben danach, uns schön zu fühlen und wünschen uns automatisch, dass auch andere uns dieses Gefühl geben. Und daran ist nichts verkehrt, solange diese Bestrebung nicht überhandnimmt. Denn wir bestehen nicht nur aus unserer äußeren Hülle, nein, wir sind so viel mehr. Natürlich sind unsere Haut, unsere Augen und der ganze Rest ein Teil von uns, aber eben nur ein Teil. Er ermöglicht uns zu laufen, zu sehen, zu hören und andere Lebewesen zu berühren.

Er ist unser Haus, aber das, was uns gänzlich ausmacht, wohnt in diesem.

Unser Körper ist das Haus unserer Seele und bietet ihr zum einen Schutz, zum anderen aber eben auch die oben genannten Fähigkeiten, die sie alleine nicht auszuführen vermag. Vorzustellen ist dieses Haus wie jedes andere auch: Manche sind groß, andere sind klein, es gibt sie in verschiedenen Farben und Formen, aber dennoch erfüllen sie alle denselben Zweck: Sie sind das Zuhause eines:r Bewohners:in. Den Körper eines Menschen mit einem Haus zu vergleichen, mag dem:r einen oder anderen seltsam erscheinen, aber nach längerem Philosophieren ergeben sich immer mehr Anhaltspunkte für diesen Vergleich:

Häuser altern, so wie es unser Körper tut. Der Putz bröckelt, eine Tür quietscht, ein Fenster lässt sich nicht mehr öffnen oder das Licht funktioniert nicht in jedem Raum. Der menschliche Körper bekommt Falten, der Energiespeicher wird verringert und die Bandscheiben regenerieren sich bei Nacht nicht mehr so gut. Ist der Zusammenhang erkennbar? Und trotzdem gehe ich so weit und behaupte, dass dies nicht schlimm ist, denn das Haus oder der menschliche Körper erfüllt während des Alterns noch immer seinen Zweck. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Irgendwann ist ein Haus so alt, dass es nicht mehr zu reparieren ist und der:die Bewohner:in verlässt es. Irgendwann ist der Körper nicht mehr imstande, sich am Leben zu halten und die Seele verlässt ihn.

Warum also geben wir uns so viel Mühe für unser Äußeres, wenn wir doch wissen, dass der Putz irgendwann bröckeln wird und wir nichts dagegen tun können? Warum konsumieren wir so viel Kleidung und Schmuck, wenn wir doch wissen, wir gehen mit jedem Tag auf das Ableben unserer Hülle, unseres Hauses, zu? Weil wir nach Neuem streben und wir uns oft nicht mit dem zufriedengeben, was wir bereits besitzen. Ein ganz entscheidender Faktor dafür ist die Gewohnheit. Gewohnheiten sind zweiseitige Medaillen: Einerseits können sie gut, andererseits aber auch sehr schlecht sein. Eine gute Gewohnheit stellt zum Beispiel dar, seine Kontakte zu halten, immer wieder Freund:innen zu schreiben und sich mit ihnen zu treffen. Metaphorisch sowie wörtlich lädt man diese Menschen in sein Haus ein und lässt sie an seinem Innersten teilhaben. Aber dann gibt es eben auch schlechte Gewohnheiten. Und genau diese führen zu etwas, weswegen so viele Menschen ihr Glück nicht zu greifen vermögen: der Verlust der Zufriedenheit. Wie bereits erwähnt, streben wir nach neuen Dingen und das ist auch gut so, sonst hätte es viele weltberühmte Erfindungen niemals gegeben. Hätte Galileo Galilei nicht nach einem neuen, verbesserten Design gestrebt, hätte es das Teleskop von heute vielleicht nie gegeben. Jedoch werden auch Dinge zur Gewohnheit, die dies eigentlich nicht werden sollten. Dazu ein kleines Gedankenexperiment: Wie oft machen wir uns bewusst, wie toll es ist, dass wir Outfits für verschiedene Anlässe haben und auch Schuhe und Taschen variieren können. Wie oft machen wir uns bewusst, dass wir unserem Haus ohne Bedenken hin und wieder einen neuen Anstrich verpassen können? Und wie oft machen wir uns bewusst, dass viele Menschen das nicht können? Selten, nehme ich an. Natürlich können wir nicht gänzlich auf diese Art der Gewohnheit verzichten und immer darüber nachdenken, wie viel schlechter es anderen geht. Das würde uns selbst auf Dauer zerreißen und zufriedener wären wir dann sicher nicht. Doch ab und zu schadet es nicht, sich bewusst zu machen, was für uns zur Gewohnheit geworden ist, wie viel wir bereits erreicht haben und dass das Verlangen nach neuen Wertgegenständen keine Leere in unserem Haus füllen kann.

Auch das Haus, in dem wir leben, ist eine Gewohnheit für uns. Wir vergessen dabei, wie gut wir es haben, einen lebensfähigen Körper zu besitzen, der uns so viele wundervolle Dinge ermöglicht. Wir sind in der Lage, die Sonne auf unserer Haut zu spüren, wir können das nasse Gras nach einem Regenguss riechen und unsere Beine tragen uns an jeden Ort, zu dem wir uns hingezogen fühlen. Das ist nicht jedem Menschen ermöglicht, aber auch in diesen Fällen ist der Körper imstande, einen Ausgleich zu schaffen. Das Haus, in dem wir leben, sagt und zeigt uns oft, was es braucht und sich wünscht. Manchmal müssen wir Bewohner:innen nur etwas besser zuhören. Wir sind verantwortlich für unser Haus, gleichzeitig dürfen wir es aber auch einfach seinen Zweck tun lassen, ohne ständig etwas ändern oder verbessern zu wollen. Natürlich ist es niemals verkehrt, darauf zu bestehen, dass das eigene Haus eine schön anzusehende Fassade hat, aber dennoch sollten wir uns fragen, ob es all die Mühe und das Geld wert ist, neue Farbe zu besorgen. Vielleicht liegt der Ursprung unserer Unzufriedenheit mit dem alten Anstrich oder dem Erneuerungswahn in einer ganz anderen Ecke unseres Hauses. Denn es kann von außen so einladend aussehen, wie es will, doch wenn in ihm furchtbare Unordnung herrscht, kann es seinen Zweck des Schutzes und der Geborgenheit niemals erfüllen. Zweifellos kann äußere Ordnung auch zu innerer führen. Um hierfür ein Beispiel anzuführen: Um einen klaren Gedanken fassen oder konzentrierter lernen zu können, reicht es oft, unseren Schreibtisch oder das ganze Zimmer aufzuräumen. Wenn wir aber unser Haus betreten, uns umsehen und überall Baustellen sehen, für die wir Überwindung brauchen, sie anzugehen, können wir dort leben und uns weiterhin wohlfühlen? Wäre es nicht so viel schöner, endlich aufzuräumen und das Chaos nicht einfach zu akzeptieren? Das wäre es sicherlich und das wissen wir auch, aber Denken und Handeln sind völlig verschiedene Tätigkeiten. Je länger wir mit Baustellen in uns selbst leben, desto mehr werden sie zur Gewohnheit, sodass wir sie niemals beseitigen, wenn wir nicht durch äußere Umstände dazu gezwungen werden.

Gewohnheiten können unser Leben bereichern und uns viel Gutes tun, sie können sich aber auch negativ auswirken, wenn wir uns nicht bewusst gegen sie entscheiden. Zudem versperren sie uns die Sicht für Neues. Wenn wir es gewohnt sind, immer dieselben Menschen in unser Haus hineinzulassen, erfahren wir vielleicht nie, wie erfüllend es sein könnte, ein neues Gesicht hineinzubitten. Worauf wir natürlich immer achten sollten, ist, dass niemand in unser Haus einbricht und wertvolles entwendet oder ein Durcheinander hinterlässt. Es dauert seine Zeit, bis die Schäden bei solch einem Ereignis behoben bzw. kompensiert werden. Demnach ist es in vielen Fällen gut, darauf zu achten, dass die Haustür abgeschlossen ist und nicht jeder einfach hereinspazieren kann. Auch Gästen, die einen noch nicht allzu oft besucht haben, sollte man womöglich nicht direkt alle Türen öffnen, die das eigene Haus beinhaltet.

Dass die Fassade irgendwann bröckelt, ist vorherbestimmt, aber unser Inneres muss davon nicht betroffen sein. Demnach sollten wir unseren Fokus grundlegend ändern. Wir leben ein Leben lang alleine in unserem Haus, also sollten wir es dort auch gemütlich haben und uns wohlfühlen, oder etwa nicht? Gleichzeitig dürfen wir dieses Recht aber auch anderen nicht absprechen. Schließlich wollen wir doch alle einen Ort haben, an dem wir uns geliebt fühlen. Und warum sollte unser Haus, unser eigener Körper, nicht genau dieser Ort sein? Nicht umsonst sagt man, zu Hause ist, wo das Herz wohnt.

Aber nun stellt sich abschließend noch eine Frage: Wie können wir denn nun die Welt beeindrucken, wäre sie blind? Schließlich würde in diesem Fall unser Aussehen, nicht einmal ein Lächeln, dazu imstande sein. Wenn wir uns aber in unserem eigenen Haus wohlfühlen und anderen zugestehen, dies auch zu können, strahlen wir eine so zufriedene Haltung aus, die mit den Augen nicht gesehen werden muss, um empfunden werden zu können. Und das macht uns schön.

Quellen:

Bildquelle: https://pixabay.com/images/id-5835871/    [Eingesehen am 7.08.22]

http://www.thematonline.com/geschichte/    [Eingesehen am 5.08.22]