Ein kurzer Blick in meine WhatsApp Nachrichten ist manchmal gleichzeitig ein kurzer Blick auf die politische Lage der EU und ihrer unterschiedlichen Mitgliedsstaaten. Meine Freunde und Freundinnen leben verstreut in ganz Europa, durch sie bekomme ich viele verschiedene Perspektiven mit und höre so von aktuellen Ereignissen, die es in den deutschen Medien gar nicht erst auf die Agenda geschafft haben. In den letzten Jahren habe ich ein Gefühl für die unterschiedlichen Kulturen der EU bekommen: Jede neue Bekanntschaft hat mir ein Land näher gebracht. Klar weiß ich, dass man zur Adventszeit in Schweden Lussekatter isst, dass es in Norwegen noch immer die Wehrpflicht gibt und jeder meiner armenischen Freunde empört auf die Aussage reagieren würde, Baklava und Paklava seien dasselbe. Kontakte in andere Länder lassen diese automatisch auf meiner mentalen Landkarte näher zusammen rücken und trotz aller Unterschiede, sehe ich am Ende vor allem eins: Wir sind alle Europäer*innen, wir teilen so viel.
Seit sich mein Netzwerk auf Europa ausgedehnt hat, empfinde ich mich auch selbst viel mehr als Europäerin. Ich habe die Ländergrenzen so oft überquert und stehe im ständigen Austausch zu Menschen in anderen Ecken des Kontinents, dass Europa für mich eine primäre Identifikationsbasis geworden ist: Ich bin Deutsche, aber in erster Linie bin ich Europäerin.
Gleichzeitig ist mir klar, dass das nicht allen so geht. Auf die Frage „Fühlen Sie sich als ein Bürger der Europäischen Union?“ antworteten im Herbst 2024 nur 27 % aller Befragten mit „ja, voll und ganz“ – 47 % immerhin mit „ja, teilweise“.[1] Meine eigene Gefühlslage entspricht also anscheinend nicht unbedingt dem Durchschnitt, es stellt sich die Frage: Wie wurde ich zur Europäerin? Wie entsteht Identifikation? Und warum braucht eine Demokratie diese überhaupt?
Es gibt viele Theorien, wie eine kollektive Identität, beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer Nation, zu Stande kommt und die versuchen, zu erklären, wie wir uns mit einer so großen Anzahl an Menschen verbunden fühlen können, obwohl wir die allermeisten davon doch nie kennenlernen werden.
Wichtig ist zunächst, dass wir uns diese Verbindung vorstellen können, indem sie im täglichen Leben sichtbar wird[2]. Das kann durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache funktionieren oder auch das Praktizieren eines Glaubens. Auch Symbole, gemeinsame Traditionen, Geschichten und Mythen sind Bausteine einer kollektiven Identität.[3]
Es gibt zwar eine europäische Flagge und auch eine Hymne, die Legende der Europa ist wahrscheinlich auch vielen bekannt, aber gleichzeitig werden in der EU rund 200 verschiedene Sprachen gesprochen (24 davon sind anerkannte Amtssprachen). Und ganz ehrlich, wie oft hört man im Alltag wirklich „Freude schöner Götterfunken“ oder schwenkt eine EU Flagge?
Die europäische Gemeinschaft muss also irgendwie anders erlebt werden. Für viele Menschen in Grenzregionen reicht es womöglich schon, dass man zum Einkaufen mal eben nach Polen fährt oder in den Urlaub nach Frankreich. Die offenen Grenzen sind zweifelsfrei ein wichtiger Bestandteil der erlebten EU und es gibt noch viele weitere Wege, die europäische Identität im Alltag zu erfahren, von Austauschprogrammen zu kleinen Details wie das Bezahlen mit dem Euro. Ich selbst lebe zwar ebenfalls im Grenzgebiet, die EU wird in meinem Leben aber vor allem durch den Austausch innerhalb eines europäischen Netzwerks sichtbar – genauer gesagt dem europäischen Jugendparlament (EYP).
Was ist das Europäische Jugendparlament?
Wurdest du da gewählt? Diese Frage bekomme ich wahrscheinlich mit am häufigsten, wenn ich erwähne, dass ich Mitglied im EYP bin und die kurze Antwort lautet: nein.
Das EYP macht zwar keine Realpolitik, aber es simuliert mehrmals im Jahr in verschiedenen europäischen Ländern die Arbeit der EU. Junge Menschen können dabei in Ausschüssen politische, soziale und wirtschaftliche Themen diskutieren und Lösungsvorschläge erarbeiten. Am Ende einer jeden Sitzung wird in der Generalversammlung über diese Vorschläge abgestimmt und man bekommt eine Vorstellung davon, wie es sich anfühlen muss, Delegierte im Europäischen Parlament zu sein. EU-Politik ist plötzlich nicht mehr abstrakt und weit weg vom eigenen Leben, sondern etwas, das man aktiv mitgestalten kann und sollte.
Nicht nur lernt man in diesem Simulationsspiel viel über die Arbeitsweise der EU und europäische Politik, in erster Linie knüpft man Kontakte mit Menschen aus ganz Europa. In der Regel besucht man seine ersten Veranstaltungen im eigenen Land, jedoch kann man sich auch für Sitzungen im Ausland bewerben und dabei unterschiedliche Positionen einnehmen, beispielsweise das Ganze als Journalistin begleiten.
In den letzten drei Jahren führte mich das Netzwerk so nach Serbien, Tschechien, Schweden und sogar Armenien (zwar kein europäisches Land, aber EYP gibt es dort trotzdem). Ich begegnete Menschen aus über 40 Ländern, vielen davon auch mehrmals und es ist immer wieder schön, sich unverhofft in einem anderen Land, auf einer anderen Sitzung, wiederzusehen.
Bemerkenswert finde ich dabei jedes mal, wie schnell man ins Gespräch kommt, Gemeinsamkeiten findet und nach nur wenigen Tagen mit neu gewonnenen Freundschaften wieder abreist – mit im Gepäck immer das Gefühl, dass wir doch alle irgendwie zusammengehören.
Die Proteste in Serbien lassen mich nicht kalt, weil eine meiner Freundinnen gerade selbst gemeinsam mit anderen Studierenden ihre Universität besetzt – in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, frei von Korruption.
Die Wahlergebnisse in Polen, Österreich, der Slowakei oder Kroatien interessieren mich, weil sie ein Teil europäischer Politik sind und auch Auswirkungen auf andere Länder in Europa haben werden. Wenn meine Freunde in Österreich deprimiert von den Ergebnissen der Nationalratswahl sind, dann fühle ich mit ihnen und frage mich gleichzeitig, wie die Bundestagswahl in Deutschland im Februar wohl ausgehen wird.
Ich spüre, dass all diese Ereignisse im Ausland irgendwie auch mich betreffen und das ist, wo Solidarität und damit die Basis für eine gemeinsame Identität beginnen.
Warum Europäer*in sein?
Kollektive Identität gibt es auf unterschiedlichen Ebenen, aber wieso reicht es nicht, sich als Teil seiner Familie oder seiner Schulklasse, vielleicht noch seiner Dorfgemeinschaft zu fühlen und sich in diesem Rahmen zu verhalten?
Wir können nicht für alles und jeden Verantwortung übernehmen, das ist klar, irgendwann sind unsere Kapazitäten ausgeschöpft. Aber eine grundlegende Empathie und Solidarität mit anderen sind die Basis eines harmonischen Zusammenlebens, europäischer Kooperation und einer nachhaltigen Demokratie. Ein Blick über den Tellerrand hinaus und das Verlassen seiner eigenen kleinen Blase sind notwendig, um eine nachhaltige europäische Gemeinschaft zu ermöglichen. Im Endeffekt kann nur so jeder und jede langfristig von den Vorteilen profitieren und sich frei in Europa bewegen, studieren und arbeiten – und immerhin ist es auch einfach ziemlich cool, Freund*innen in ganz Europa zu haben.
Die nächste Sitzung, an der ich teilnehmen werde, ist schon geplant und wird in Karlsruhe stattfinden – eine Bekannte aus Finnland wird ebenfalls dort sein. Als ich das erfahre, schreibe ich ihr sofort eine kurze Nachricht: „I’m so excited! Can’t wait to welcome you in Germany!“ [dt.: „Ich bin so aufgeregt! Ich freue mich schon, dich in Deutschland begrüßen zu können!“].
Am Ende einer jeden Sitzung fällt die Abreise oft schwer. Menschen, mit denen man mehrere Tage rund um die Uhr zusammen war und die man lieb gewonnen hat, fahren zurück nach Hause und es ist nicht klar, wann man sich wieder trifft. Ein geflügeltes Wort, das deshalb zum Abschied oft fällt und sich zum Glück auch immer wieder bewahrheitet, lautet:
“See you somewhere in Europe!” – Wir sehen uns, irgendwo in Europa!
[1] Statista (2025). Europäische Union: Fühlen Sie sich als ein Bürger der Europäischen Union? Ergebnisse des Eurobarometer von Frühjahr 2014 bis Herbst 2024. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/983007/umfrage/eurobarometer-umfrage-zur-wahrnehmung-als-buerger-der-europaeischen-union/ .
[2] Anderson, B. (2005). Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Campus Verlag.
[3] Smith, A. D. (2005). Myths and Memories of the Nation [Mythen und Erinnerungen der Nation]. Oxford University Press.