Ich habe mit 16 die Schule „geschmissen“, als die einzige in meinem Jahrgang – und das nicht nur aus einer spontanen Trotzreaktion, sondern wegen einer tiefgehenden Überforderung mit meinem Privatleben, in dem kein Platz für Matheformeln oder Referate blieb. Jeden Tag hatte ich das Gefühl, um mein eigenes Überleben kämpfen zu müssen und für alles, was nicht sofort anstand, hatte ich keine Kapazität. Ich habe vier Geschwister und komme aus einer zerbrochenen Familie, eine Erfahrung, die ich mit vielen Schulabbrecher:innen teile.
Natürlich war der Schulabbruch keine Lösung. Doch niemand hielt mich ernsthaft davon ab – ein paar halbherzige Rückfragen der Lehrer:innen, das war’s. Ich hatte, wie in den folgenden Jahren, immer wieder das Gefühl, man hätte mich einfach aufgegeben und jedes Urteil bereits gefällt.
Ich habe eine Ausbildung angefangen, viele Möglichkeiten gab es nicht, aber ich war auch noch Berufsschulpflichtig und musste irgendwas tun. Eineinhalb Jahre später habe ich diese Ausbildung auch abgebrochen, nicht völlig aus eigenem Willen, aber ich fühlte mich nicht weniger überfordert als in meiner Zeit auf der Realschule. Die Mitarbeiterin des Jobcenters versicherte mir – wenig glaubwürdig – dass man auch mit dem Hauptschulabschluss (den man nach der 9. Klasse automatisch erhält) zwar auch „etwas werden“ kann, aber wie das genau aussehen sollte, konnte mir keiner sagen.
Und so ging es weiter. Es gibt zwar viele Möglichkeiten in Deutschland, etwas aus sich zu machen, aber ohne „richtigen Abschluss“ begrenzt sich das unüberschaubare Angebot schnell auf wenige Stellen – und diese lehnten mich auch noch ab. Es folgten prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor und das Gefühl, von Gleichaltrigen völlig abgehängt zu sein. Es liegt ein ganz unangenehmes Lebensgefühl daran, in einer beruflichen Einbahnstraße gefangen zu sein, die nirgendwo hin zu führen scheint.
Niemand konnte mir wirklich etwas anbieten, da so schnell wieder herauszukommen. Ich war psychisch instabil und kaum belastbar, das sind Eigenschaften, die mir später immer wieder zum Verhängnis wurden, selbst bei einfachsten Jobs. Es hat viele Jahre gedauert, dies aufzulösen. Nicht mal eine Teilzeitstelle im Einzelhandel habe ich bekommen können – mit der Begründung, ich wäre nicht belastbar, zu langsam, zu empfindlich. Ein Probearbeiten brach ich tränenüberströmt ab.
2021 bin ich auch noch durchs Externenabitur gefallen – kein Wunder, eigentlich, aber ich habe nur ganz knapp nicht bestanden. In den schriftlichen Prüfungen habe ich die notwendige Punktzahl erreicht, in den mündlichen Prüfungen nicht. Die letzte Prüfung in Religion sollte ich dann gar nicht mehr antreten, nachdem ich in einer anderen Prüfung 0 Punkte geholt hatte.
Es ist tatsächlich nicht, oder nur sehr selten möglich, den Realschulabschluss extern nachzuholen, weder über Fernschulen noch als externer Prüfungsteilnehmer an Regelschulen ist das häufig. Ab diesem Zeitpunkt merkte ich, dass meine Situation besonders ist, selten, auf den ersten Blick überfordernd. Immer schwieriger fühlte es sich an, den Leuten zu erklären, was ich eigentlich vorhätte. Immer stärker wurde das Gefühl, im totalen Chaos gelandet zu sein.
Die einzige Schule, die mir überhaupt noch eine Chance geben wollte, war die Schule des zweiten Bildungsweges. Mit der Hilfe meiner Lehrer:innen und der Schulleitung konnte ich sogar die Vorklasse überspringen, in die ich eigentlich aufgrund meines fehlendes Abschlusses gemusst hätte, und konnte in drei Jahren mein Abitur machen – besser spät als nie. Aber solche Schulen existieren auch nicht überall. Abendgymnasien erfordern oft eine begleitende Berufstätigkeit, die nicht bei jedem Bewerber stabil bestehen bleibt.
Es kann und sollte eigentlich nicht sein, dass Jugendliche sich selbst in diese Situation bringen können, dass man gebrochenen Lebensläufe nicht verhindert, bevor sie zerbrechen, dass man Schüler:innen mit psychischen Erkrankungen, „Schulschwänzer“ und alle anderen, die gerade vielleicht Leistung erbringen wollen, es aber nicht können, nicht auffängt.
Ein Gedanke ließ mich nicht los: Als Kind glaubte ich, alles ins ‚Später‘ verschieben zu können, weil ich dachte, es gäbe unendlich viel Zeit. Dann war ich aber 16 – definitiv noch nicht erwachsen – und konnte mir mein ganzes Leben sabotieren, ohne dass es einen einfachen Weg gegeben hätte, da wieder hinauszukommen. Als ich Hilfsangebote annahm, riet man mir zu einer Reha-Ausbildung oder einer Beschäftigung auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Aber auch die Reha-Ausbildungen sind kein „einfacher Weg raus“, sondern haben begrenzte Plätze und sind regional begrenzt verfügbar.
Die Politik scheint zu wissen, dass das nicht nur mein persönliches Problem ist, sondern jedes Jahr viele Jugendliche trifft, besonders bei uns in Ostdeutschland. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verlässt Statistiken zufolge etwa jeder zehnte Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Was wird aus diesen jungen Menschen? Sie finden einen Ausbildungsplatz, verschwinden vielleicht aber auch in den Statistiken des Arbeitsamtes, in Maßnahmen, Kämpfen mit Behörden und Bürokratie und nicht selten in langfristigen, aber prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Besonders die Kombination „psychisch krank – kein Abschluss“ kann sich für Jugendliche erdrückend anfühlen, so, als hätten sie sich ihr junges Leben schon völlig „verbaut“ und keine Zukunftsperspektive mehr. Dies verstärkt die psychischen Leiden und den Wiedereinstieg in die Gesellschaft, z.B. nach einem längeren Psychiatrieaufenthalt erheblich, weil keine feste Struktur da ist, in die man einfach so zurückkönnte.
Arbeitslose sind überdurchschnittlich hoch von Einsamkeit betroffen, Arbeit ist schließlich für viele Menschen auch der Anschluss an „die Welt draußen“, an ein Miteinander und das Gefühl, nicht abgehängt zu sein – genau die Probleme, die (benachteiligte oder psychisch kranke) Jugendliche besonders hart treffen, die den Berufseinstieg nur schwer oder gar nicht schaffen.
Für meinen Weg gilt: Ich wünsche es niemandem. Als ich mit 16 die Schule abbrach, hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, wie viele Jahre es mich kosten wird, zurückzufinden und wie viel Arbeit, Verzweiflung und Einbrüche ich erleben würde, ehe mein Bildungsweg wieder „geradegerückt“ werden konnte, und das auch nur, weil ich die Möglichkeit hatte, den zweiten Bildungsweg überhaupt zu besuchen. Dieser Schritt half, wieder eine klare Linie nach vorne zu sehen und zu beschreiten, aber all das, was vorher war, muss ich auf Nachfragen hin immernoch sehr mühselig erklären.
Statt die jährlichen Statistiken über Jugendliche ohne Abschluss nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, sollte die Politik sich konkrete Strukturen und Wege überlegen, wie man die Schulabbrecher möglichst unkompliziert „zurückholen“ kann, etwa indem man mehr Schulen für Erwachsene, Reha-Ausbildungsplätze und andere Teilhabemöglichkeiten anbietet, aber auch den Zugang zu psychologischer und psychiatrischer Versorgung weiter verbessert. So können die Probleme vielleicht aufgefangen werden, bevor sie zum Schulabbruch führen. Ich hatte Glück, noch einmal eine Tür zu finden. Viele andere haben dieses Glück nicht. Wir sollten nicht warten, bis jemand scheitert – sondern rechtzeitig dafür sorgen, dass das drohende Scheitern aufgefangen wird.