Durch den Garten meiner Eltern bis zur Haustür zu stapfen und drinnen schon ihre Stimmen zu hören; am Potsdamer Platz auszusteigen, den altbekannten Weg zu laufen und die Stufen durch das mit Graffiti vollgesprühte Treppenhaus hochzusteigen; mit dem Zug am Kölner Hauptbahnhof einzufahren und durch das ICE-Fenster den Dom zu sehen – all diese Sachen lösen ein Gefühl von Heimat bei mir aus.


Dabei wohne ich erst seit drei Jahren in meiner jetzigen Wohnung in Berlin Kreuzberg, an den vierjährigen Lebensabschnitt in Köln während meiner Kindheit kann ich mich kaum erinnern und dauerhaft zurück nach Hause zu meinen Eltern in den Südwesten Berlins zu ziehen wäre wohl für alle Beteiligten gelinde gesagt ein Albtraum.

Bild: Jacob Schmidt

Obwohl ich weder in Berlin noch in Köln geboren bin, sind diese beiden Städte für mich das, was als erstes in den Sinn kommt, wenn ich über das Wort Heimat nachdenke.
Berlin als meine Heimat, in der ich groß geworden bin und für die ich mich auch nach meinem Abitur bewusst entschieden habe und Köln als der Ort, an dem meine Familie verankert ist und dessen Lebensgefühl mir vor allem von meinem durch und durch rheinischen Papa in die Wiege gelegt wurde.

Heimat ist nicht rational. Heimat muss nicht einmal unbedingt ein Ort sein. Für viele ist es das; besonders wahrscheinlich für jene, die an dem gleichen Ort geboren und aufgewachsen sind und immer noch dort leben. Für mich sind es auch die bereits erwähnten Orte, doch trotzdem ist die Antwort eben immer ein bisschen komplizierter als nur ein einziger Städtename, wenn ich nach meiner Heimat gefragt werde.
Für Zugezogene in Berlin bin ich Berlinerin, für Berliner:innen bin ich Zugezogene.

5 Freundinnen in Berlin und ihre 9 Heimaten

Diese Unklarheit bezüglich meiner Heimat entsteht also obwohl ich sogar nur innerhalb Deutschlands in verschiedenen Städten aufgewachsen bin. Das Gefühl mehr als eine Heimat zu haben und trotzdem nirgendwo ganz dazuzugehören, erleben junge Menschen, die zum Studieren oder für ihre Ausbildung in ein anderes Land gezogen sind, oft viel stärker.
Im Verlauf meines Studiums hat sich eine Freundesgruppe von fünf jungen Frauen gebildet, die alle ebenfalls nicht mehr an dem Ort und meist nicht mal mehr in dem Land wohnen, an dem sie entweder geboren oder groß geworden sind. Eine davon bin ich, die anderen habe ich ebenfalls nach ihrer Heimat gefragt.

Das erste was auffällt ist, dass es vor allem bei all denen, die zum Studieren in ein anderes Land gezogen sind, keine einfache Antwort auf diese Frage gibt. Keine kann einfach mit einem Ort antworten, denn bei allen ist es komplizierter als das und ein einziger Ortsname würde nicht ihr inneres Gefühl widerspiegeln, was sie haben, wenn es um ihre Heimat oder um ihr Zuhause geht. Es ist eben jenes Gefühl, dass Gabi, die in La Paz in Bolivien geboren ist und nun aber seit mehreren Jahren in Berlin wohnt, arbeitet und studiert, so beschreibt:

Beides ist meine Heimat und gleichzeitig gehöre ich an keinem der beiden Orte ganz dazu. Ich werde auf Grund meiner bolivianischen Herkunft niemals 100% in Deutschland dazu gehören oder mich vollständig dazugehörig fühlen, auch wenn ich mich hier zuhause fühle. Aber wenn ich zurück nach Hause nach Bolivien gehe, gehöre ich dort ebenfalls nicht vollständig dazu, weil ich auch durch mein Leben in Deutschland geprägt bin. That is why I belong to both and to none.

Auch Alex teilt dieses gleiche Gefühl nie vollständig dazuzugehören egal wo sie ist, weil niemand die gleiche Migrations- und Lebensgeschichte hat wie sie: Geboren in Sardinien, aufgewachsen in Luxemburg, zum Studieren nach Berlin gezogen und durch das Erasmus Programm nach Kopenhagen gekommen und dort geblieben. Von sich selbst sagt sie, dass sie als erstes an Sardinien denkt, wenn es um den Begriff Heimat geht. Aber gleichzeitig ist sie zwar dort geboren, aber nicht aufgewachsen und möchte dort auch gar nicht wohnen, weshalb sie auch in ihren Geburtsort nicht ganz hingehört. Dieses Gefühl nicht dazuzugehören wurde ihr aber vor allem beim Aufwachsen in Luxemburg gegeben. Sie hat gespürt, dass die anderen in ihrem sozialen Kreis sie und ihre Familie und ihre Kultur nicht vollständig annehmen wollten. Dieses Gefühl der Ausgrenzung führte irgendwann dazu, dass sie auch nicht mehr dazugehören wollte und sich Luxemburg, obowhl es ihr wertvolle Möglichkeiten geboten hat, nie als ihre wahre Heimat etablieren konnte.

Erfahrungen von Ausgrenzung, Diskriminierung und ein Gefühl der Zerissenheit zwischen mehreren Orten, an denen man nirgendwo vollständig dazugehört, können also die Schattenseite sein von den Weltenbummler:innen, die gleich mehrere Flecken der Erde als ihre Heimat bezeichnen.
Auf der anderen Seite kann es aber eben auch bereichernd sein mehr als ein Zuhause zu haben und sich schnell überall wohlfühlen zu können. Das Heimatsgefühl muss nicht unbedingt an einen einzigen Ort gebunden sein. Das sagt auch Daria, die zwar in Berlin geboren, aber in Amsterdam aufgewachsen ist und nach einer kurzen Rückkehr nach Berlin für ihr Studium sich nun in Madrid niedergelassen hat. Jede dieser drei Städte gibt ihr ein Heimatsgefühl, wenn sie umringt ist von den richtigen Leuten. Es sind also eher Menschen als Orte, die in ihr das warme Gefühl auslösen zuhause zu sein.
Auch für Luise, die zum Studium aus Coburg nach Berlin gezogen ist, machen die Menschen um sie herum ihr Heimatsgefühl in Berlin für sie aus. Zusätzlich dazu hat sie in Berlin vor allem auch ihre politische und inhaltliche Heimat gefunden, was ihr das Gefühl gibt in der Stadt angekommen zu sein.

So kann sich also im Laufe des Lebens durch die Menschen um uns herum, unseren inhaltlichen und politischen Bezug zu einem Ort und weitere Erfahrungen unser Verständnis von unserer eigenen Heimat verändern. Es können weitere Heimatsorte dazukommen oder es verändert sich unser Bezug zu manchen. Nicht jeder Wohnort muss immer eine Heimat sein, vor allem, wenn dieser temporär ist, aber es lässt sich nicht leugnen, dass unsere Lebensrealität und unser Alltag auch unser Verständnis von Zuhause prägt. Ein Ort, an dem man gerne wohnt und sich wohlfühlt, kann sich also zu einer neuen Heimat entwickeln, während das Heimatsgefühl in Bezug auf einen frühereren Wohnort vielleicht irgendwann immer mehr ausbleibt.

Heimat, Zugehörigkeit und Herkunft

Heimat kann trotzdem aber auch etwas mit Herkunft zu tun haben. In dem Kontext von Heimat wurde automatisch immer viel über Zugehörigkeit gesprochen. Wenn diese nicht über Freundesgruppen oder inhaltliche und politische Zugehörigkeit definiert wird, geschieht dies oft über kulturelle Angehörigkeit.
Das Verständnis von Heimat über Herkunft und Zugehörigkeit zu einer Kultur führt oft zu dem Ort an dem man geboren und aufgewachsen ist. Denn auch die Geschichte eines Landes, das Essen, die Gerüche, die Natur und die Traditionen tragen etwas dazu bei ein Heimatsgefühl hervorzurufen.
Dieses leicht sentimentale Gefühl was sich in ihr breit macht, wenn sie in der einzigartigen Stadt La Paz die Berge außerhalb der Stadt sieht, ist es was genau diesen Teil von Gabis Verständnis von Heimat ausmacht. Auch Alex sagt, dass ihre Erinnerungen und das kulturelle Erbe viel von ihrem Heimatsgefühl gegenüber Sardinien ausmachen.  Mittlerweile ist sie stolz auf ihre Herkunft und kann diese Verbundenheit mit ihrer eigenen Heritage und dem damit einhergehend Gefühl von Heimat in sich tragen, ohne dass es nur an einen Ort gebunden ist.

Heimat kann also auch etwas ganz mobiles sein, was man in sich tragen kann. Ein Gefühl, welches einen begleitet unabhängig von einem einzigen Ort. Jede von uns trägt solch ein Gefühl in sich und für jede kann es unterschiedlich aussehen.

So trafen sich also diese fünf jungen Frauen in Berlin. Alle brachten ihr eigenes Stück Heimat mit: Erinnerungen an die besondere Natur und Lage der Stadt in der man den Großteil seines Lebens verbracht hat; Traditionen und Kultur aus der Region in der man geboren wurde, welche man endlich ausleben kann; Verbindungen zu Familie und Freund:innen an verschiedensten Orten und der Wunsch nach einer Zugehörigkeit basierend auf inhaltlicher und politischer Ebene.

Für alle ist ihre eigene Antwort auf die Frage nach der Heimat unterschiedlich kompliziert und unterschiedlich emotional behaftet, gemeinsam haben sie, dass diese Frage nicht mit einem Wort beantwortet werden kann.