Disclaimer: Dieser Text beinhaltet nicht-jugendfreie Sprache.

Eine jede Geschichte, Erzählung, jedes Gedicht und jeder Roman ist Zeugnis einer einzelnen kleinen Idee. Sie gedeiht und wird ergänzt, weitergeführt und schließlich niedergeschrieben. Die Frage, welche jeden des Schreibergeschlechts, egal ob Dichter oder Autor, entweder zu Beginn, zum Schluss oder auch inmitten seines Schreibflusses plagt, lautet: ,,Ist das kreativ?‘‘.

Eine kurze, aber alles andere als präzise Frage. Sie lässt wunderbare Geschichten nie das Licht der Welt erblicken. Belanglose, praktisch langweilige Einfälle, werden wiederum ohne jeden Zweifel, ja sogar ohne Scham und Verstand, herunter geschrieben, ohne sich die Frage nach der Kreativität zu stellen.

Lassen Sie mich das an ein paar Beispielen festmachen: Am Anfang eine schlichte Erzählung des Alltags, nichts dazu gedichtet, keine Ausschweifungen, nur die chronologische Wiedergabe des Erlebten an einem bestimmten Tag wie ein Tagebucheintrag.

Ist das kreativ?

Jetzt geht es um einen Geldschein. Sie lassen ihn zum Leben erwecken und erzählen in diesem Fall von seiner Sicht der Dinge aus, wie er von Besitzer zu Besitzer weiter gereicht wird, schildern die ewige Dunkelheit in den Portemonnaies der Menschen und lassen ihn älter werden, je zerknitterter er mit jedem Gebrauch wird.

Ist das kreativ?

Ist es kreativ, wenn ich in meinen Erzählungen aber Liter von Blut fließen lasse, in einer Horrorgeschichte, gespickt mit trivialen Schockwörtern wie ,,mordlustig‘‘, ,,in Fetzen gerissen‘‘, ,,Blut gurgeln‘‘ oder ,,Knochen zerbersten‘‘? Etwas, was den Leser nach dem Zuschlagen des Buches in Angst und Schrecken zurücklässt? Von Leid geplagte Dämonen, die ihn durch kalte Finsternis jagen, eine alte Frau, der Hautlappen von Kopf und Gesicht hängen und welche ihm mit weit aufgerissenem Mund von Angesicht zu Angesicht Fäule ins Gesicht treibt. Oder das kleine Mädchen im Nachthemd, schwarzen, spröden Haaren vor dem Gesicht und Stoffbär in der Hand, dass im langen Gang steht und ihn anlächelt.

War das kreativ?

Können ,,Bastard‘‘, ,,Fotze‘‘, ,,Hure‘‘, ,,Wichser‘‘, ,,Missgeburt‘‘ oder ,,Schlampe‘‘ einen kreativen Beitrag zu meiner Geschichte leisten, wenn ich achtlos mit ihnen um mich werfe? Werde ich kreativ, wenn ich Wörter wähle wie ,,despektierlich‘‘ statt ,,respektlos‘‘, wenn ich ,,pejorativ‘‘ statt ,,abwertend‘‘ schreibe, ,,linguistisch‘‘ statt ,,sprachlich‘‘ oder ,,Koryphäe‘‘ statt ,,Experte‘‘?
Die unsittliche Beschreibung ,,Sie ficken.‘‘ vollendet schließlich die Klimax. Es wäre doch umso schöner zu hören ,,Im Erliegen ihrer Wollust und Begierde nach Erlösung ergötzen sie sich der Schönheit und Perfektion des anderen gen Höhepunkt der Gefühls-Explosion.‘‘

Was ist nun kreativ?

Eine einheitliche Definition von Kreativität könnte Abhilfe schaffen. Meiner Meinung nach sollte es Neues, noch nie Dagewesenes sein, was Kreativität schafft. Der Mensch bemerkt es daran, dass Kreativität ihn zuhören, nachdenken und verblüffen lässt, offensichtlich nicht unbedingt einfach. Vollendete Kreativität, aus etwas vollkommen Neuem, geradezu unvorstellbarem, geht absolut über menschliche Kompetenzen hinaus. Warum? Weil alles für uns Erdenkliche im Rahmen abläuft.
Zeit, Wirklichkeit, Existenz, das sind in meinen Augen Gesetzmäßigkeiten, die für den Menschen fundamental sind. Alleine die Vorstellung eines ,,Seins‘‘ ohne Zeit und Raum kostet Unmengen an Vorstellungskraft, ansatzweise zu erahnen, was das bedeuten könnte.

Innerlich zerreißt es mich, die Frage nach Kreativität. Trotzdem freue ich mich jedes Mal, wenn ich Texte fremder Schreiber in den Händen halte, aus denen mich alleine der Versuch, absolut Neues zu formulieren, in seinen Bann zieht. Elan und Wille beim Schreiben sollen mir schon während des Lesens entgegenspringen und mich verblüfft zurücklassen. Ist dieser Text nun, kritisch bemessen an solchen Regeln, überhaupt kreativ? Die Frage geht an Sie.



Comments

  1. Lieber Jan,
    wow, ich bin ehrlich beeindruckt! Dein Sprachstil ist umwerfend und ich musste laut lachen, als ich zum Anschnitt mit ,, Sie ficken” und derweiteren Ausführung gekommen bin…Mega!
    Ich würde sagen, das nenne ich kreativ!

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